Die Schildbürger: Die versunkene Glocke **

Geschichte von den Schildbürgern:

 

Die Schildbürger: Die versunkene[1] Glocke **

Mittlerweile[2] war der Krieg, an Salzburg[3] und Salzwedel[4] vorbei, durchs Land gezogen und schien sich dem Städtchen Schilda zu nähern. Das erfüllte die Schildbürger mit großer Sorge. Denn ob nun die jeweiligen[5] Sieger oder die Besiegten in eine Stadt kamen, es war immer dasselbe: Die Soldaten gingen in die Häuser und plünderten[6] alles, was sie finden konnten.

Wo soll man die Glocke verstecken?

So versteckten die Schildbürger schnell alles, was ihnen teuer und wert war. Nur mit der Kirchenglocke wußten sie nichts anzufangen. Sie war aus Bronze und ziemlich groß. Und man kannte damals schon die Vorliebe der Kriegsleute für Kirchenglocken. Entweder holte sie die eigene Partei, oder die Feinde nahmen die Glocken als Andenken mit. So oder so, es war kaum zu vermeiden. Nun lag aber ganz in der Nähe von Schilda ein tiefer See. Und der Bürgermeister sagte: „Ich hab’s. Wir versenken[7] die Glocke im See, und wenn der Krieg vorbei ist, holen wir sie wieder heraus.“

Gesagt, getan. Sie holten die Glocke aus dem Kirchturm, hoben sie auf einen Wagen und fuhren zum See hinaus. Dann trugen sie die Glocke schwitzend in ein Boot und ruderten ein Stückchen hinaus. Dann warfen sie die Glocke ins Wasser. Schon war sie verschwunden. Und der Schmied zog sein Taschenmesser aus der Jacke und schnitt in den Bootsrand eine tiefe Kerbe[8]. „Damit wir nach dem Krieg wissen, wo wir die Glocke ins Wasser geworfen haben. Sonst fänden wir sie am Ende nicht wieder.“ Sie lobten ihn, bis er rot wurde, und ruderten ans Land zurück.

Die Kerbe ist überall

Nun, der Krieg machte glücklicherweise einen großen Bogen um Schilda. Niemand kam in die Häuser. Alle Kostbarkeiten wurden wieder aus den Verstecken hervorgeholt. Und man fuhr mit dem Boot auf den See hinaus, um die Glocke zu heben. „Hier muss sie liegen!“ rief der Schmied und zeigte auf seine Kerbe am Bootsrand. „Nein, hier!“, rief der Bäcker, während sie weiter ruderten. „Nein, hier!“, rief der Bürgermeister. „Nein, hier!“ rief der Schuster. Wohin sie auch ruderten, überall hätte die Glocke liegen müssen. Denn die Kerbe am Boot war ja überall dort, wo gerade das Boot war. Mit der Zeit merkten sie, daß der Einfall[9] des Schmieds gar nicht so gut gewesen war. Sie fanden also ihre Glocke nicht wieder, so sehr sie auch suchten, und mußten sich für viel Geld eine neue gießen lassen. Der Bäcker aber schlich[10] sich eines Nachts heimlich zu dem Boot und schnitt wütend die Kerbe heraus. Dadurch wurde sie freilich nur noch größer als vorher. Mit Kerben ist das so.


[1] versinken: (im Wasser) untergehen
[2] mittlerweile: in der Zwischenzeit – inzwischen, unterdessen
[3] Salzburg: Stadt in Österreich
[4] Salzwedel: Kreisstadt in der Nähe von Magdeburg
[5] jeweilig: in einer bestimmten Situation gerade vorhanden
[6] plündern: aus Geschäften und Häusern Dinge stehlen
[7] versenken: bewirken, dass etwas nach unten sinkt
[8] die Kerbe: eine kleine Vertiefung (in Form eines „V“) in der Oberfläche besonders von Holz
[9] der Einfall: ein plötzlicher Gedanke, eine neue Idee
[10] schleichen: heimlich und leise irgendwohin gehen