Vor langer Zeit[2] lebten auf der Insel Rügen zwei Frauen. Die eine war arm und hatte ein gutes Herz, die andere war reich und geizi[3] . Eines Tages gab es viel Wind und Regen. Da klopfte es an die Tür der hartherzigen[4] Frau. Ein Mann[5] bat sie, übernachten zu können. Die Frau aber jagte ihn mit bösen Worten in das Unwetter hinaus.
Da ging er zu der Hütte der armen Frau und klopfte dort an. Gerne nahm sie in auf. Die arme Frau teilte ihr Essen mit ihm und gab ihm auch ein Bett für die Nacht. Am anderen Morgen dankte der alte Mann der Frau beim Abschied. Er sagte: Ich habe kein Gold und Silber, um dir die Übernachtung zu bezahlen. Aber die erste Arbeit, die du heute beginnst, soll dir gesegnet sein!“ Die Frau dachte nicht mehr an diese Worte und wollte den Rock ihrer Tochter reparieren. Sie öffnete die Truhe[6], in der der Stoff und die Wäsche lagen. Die Frau begann zu messen, ob das Leinen[7] reichen würde. Aber die Leinwand wurde nicht alle[8]. Die Frau maß und maß. Und als am Abend die Sonne unterging, hatte die gute Frau das ganze Haus voll schönen Leinens und konnte viel davon verkaufen. So war sie nicht mehr länger arm.
Als die reiche Frau davon hörte, wurde sie sehr neidisch. Als einige Zeit später der Mann wieder an ihre Türe klopfte, nahm sie ihn gerne auf. Sie kochte ihm eine gute Suppe und gab ihm ein weiches Bett für die Nacht. Am Morgen versprach der Mann auch ihr beim Abschied: Die erste Arbeit, die du heute beginnst, soll dir gesegnet sein!“ Dann ging er fort.
Sofort wollte die Frau ihr Geld zählen. Aber als sie gerade anfing, brüllte plötzlich die Kuh im Stall. Sie lief an die Pumpe, um noch schnell einen Eimer Wasser für die Kuh zu holen. Aber die Frau konnte mit dem Pumpen nicht wieder aufhören. Das Wasser lief und lief, bis das ganze Land um das Haus der Habgierigen überschwemmt war. Jetzt war das (ihr) Land von Rügen getrennt. Da sie Mutter Hidden“ hieß, nannte man die so entstandene Insel Hiddensee“.
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 3/2004
[1] lang gestreckte Ostseeinsel vor der Westküste von Rügen in Mecklenburg-Vorpommern
[2] Die Geschichte spielt im 9. Jhdt. n. Chr.
[3] geizig: übertrieben sparsam
[4] hartherzig: ohne Mitleid, Rücksicht oder andere freundliche Gefühle – hart, unbarmherzig
[5] Es handelt sich der Sage nach um einen christlichen Missionar, der den Menschen auf Rügen die frohe Botschaft von Jesus Christus bringen wollte.
[6] die Truhe: eine Art großer Kasten mit einem Deckel (den man aufklappen kann), in dem man früher besonders Kleidung oder Geld aufbewahrt hat
[7] das Leinen: ein sehr fester und glatter Stoff (aus Flachs)
[8] etwas wird alle: etwas geht zu Ende, wird aufgebraucht