Nicht selten werden große Künstler und Wissenschaftler in ihrer Zeit nicht erkannt. Sie leiden oft Not und manche sterben früh. So auch Heinrich von Kleist, einer der größten deutschen Dichter.
Kleist wurde 1777 in Frankfurt/Oder in einer preußischen Offiziersfamilie geboren. Nach einigen Jahren als Soldat begann er ein unruhiges Wanderleben bis in die Schweiz und nach Paris. Seine Verlobung löste er wieder auf. Er wollte ein Dichter werden wie seine Zeitgenossen Goethe und Schiller. Später lebte Kleist in Dresden und schließlich in Berlin.
Ein ehrgeiziger und unruhiger Mensch
Kleist konnte freundlich und herzlich, aber auch aggressiv sein. Er war als Dichter sehr ehrgeizig[1]. Immer schien Kleist an einer inneren Traurigkeit zu leiden. Er war ein unruhiger, unzufriedener Mensch. Kleist, der als Kind Gott gekannt hatte, glaubte nicht mehr an ihn. Aber Gott hätte ihm helfen, ihn trösten und ihm inneren Frieden geben können.
Der höhere Frieden
Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen,
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf,
Menschen, die im Busen[10] Herzen tragen,
Menschen, die der Gott der Liebe schuf:
Denk ich, können Sie doch mir nichts rauben,
Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben,
Der dem Hasse, wie dem Schrecken, wehrt.
Nicht des Ahorns dunkle Schatten wehren,
Daß er mich, im Weizenfeld, erquickt,
Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.
Heinrich von Kleist (1792/93)
Kleist meinte: Wir können die letzte Wahrheit nicht erkennen. Die Welt bleibt für uns undurchschaubar. Wir handeln nicht aufgrund klarer Erkenntnisse, klarer sittlich-moralischer Grundsätze[2], sondern wir handeln aufgrund von mächtigen Gefühlen, die uns beherrschen[3].
Diese Gefühle sind oft negativ, z.B. Hass und Zerstörungslust. Kleists Figuren treffen ihre Entscheidungen allein nach ihren innersten Gefühlen, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft: So zerfleischt[4] die Amazonenkönigin Penthesilea in der gleichnamigen Tragödie[5] ihren Geliebten Achill aufgrund eines Irrtums und tötet sich dann selber. In der Novelle[6] Michael Kohlhaas“ kämpft dieser fanatisch um sein Recht und wird dabei selber zum Räuber und Mörder.
Ein genialer Dramatiker
Kleist kennt aber auch positive und heitere Gefühle. So zum Beispiel eheliche Treue oder Liebe, wie in dem noch heute gespielten großen historischen Ritterschauspiel“ Das Käthchen von Heilbronn“. Auch seine humorvolle Komödie Der zerbrochene Krug“ wird heute noch oft aufgeführt, genauso wie sein letztes Drama Der Prinz von Homburg“. Hier siegt der Prinz über sein Gefühl, das ihn zerstören will. Er erkennt, dass es sittlich-moralische Grundsätze gibt, und er gehorcht ihnen. Dadurch wird ihm das Leben neu geschenkt.
Kleist war ein genialer Dramatiker. Aber auch seine Novellen sind Meisterwerke. Ihre Sprache ist konzentriert-dramatisch, vorwärts drängend. Kleists Dichtung ist keiner literarischen Schule zuzurechnen, sie weist auf die Moderne voraus und nimmt, vor allem durch die spannungsreiche Sprache, in manchem den Expressionismus[7] vorweg.
Trotzdem fand Kleist zu seiner Zeit keine Anerkennung. Er wurde arm, seine Familie verstieß[8] ihn, Napoleons Herrschaft über Deutschland verbitterte[9] ihn. Gott kannte er nicht. So sah er keinen Ausweg mehr. Gemeinsam mit der schwer kranken Henriette Vogel (*1773), deren Bekanntschaft er erst am selben Tag gemacht hatte, nahm er sich am 21.11.1811 am Wannsee bei Berlin das Leben. Er war ein Mensch, der uns trotz seiner Fehler Leid tut.
Hans Misdorf
[1] ehrgeizig: mit einem ein starkes Bemühen um Erfolg und Ruhm
[2] Das meinte mit Goethe und Schiller die deutsche Klassik.
[3] Darin ist Kleist sehr modern, denken wir an Sigmund Freud.
[4] zerfleischen: jmdn. durch Bisse schwer oder tödlich verletzen (von Tieren)
[5] die Tragödie: ein Schauspiel mit unglücklichem, tragischem Ende – Trauerspiel
[6] die Novelle: eine Erzählung (länger als eine Kurzgeschichte, aber kürzer als ein Roman) meist über ein ungewöhnliches Ereignis und oft mit einem Wendepunkt
[7] der Expressionismus: ein Stil der (europäischen) Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in dem elementare Erlebnisse (z.B. des Krieges) mit intensiven, starken Mitteln (Farben, Bildern usw) ausgedrückt werden
[8] verstoßen: (hier) jemanden aus einer Gruppe oder aus der Familie ausschließen
[9] verbittern: mit bleibendem Groll erfüllen, bes. über das eigene, als allzu hart empfundene Schicksal od. über eine als ungerecht, verletzend o.ä. empfundene Behandlung
[10] der Busen: veraltet lit; das Herz als der Ort, an dem die Seele und die Gefühle des Menschen ihren Platz haben