Franz Kafka, Vorreiter der modernen Literatur (II) -Sein Werk

Kafkas Werk wird von Figuren durchzogen, deren Handeln und Leben hoffnungslos und aussichtslos ist. Je mehr sie sich anstrengen, desto weiter entfernen sie sich von ihrem Ziel. Dies ist sowohl die Grundidee in den Romanen („Der Verschollene“ / „Amerika“ und „Das Schloss“) wie auch in zahlreichen kurzen Erzählungen.

Schon die wenigen Sätze der „kleinen Fabel“ handeln von diesem bei Kafka wiederkehrenden Thema:

Franz Kafka: Kleine Fabel

»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.


In der Erzählung „Die Verwandlung“ verwandelt sich der Handelsreisende Gregor Samsa in einen Käfer. Obwohl er an diesem Zustand gänzlich unschuldig ist, sucht er die Schuld dafür bei niemand Anderem sondern fügt sich in sein Schicksal. Er ist noch nicht einmal ernsthaft verärgert, dass seine Familie nichts für eine eventuelle Rück-Verwandlung oder Heilung tut, sondern ihn versteckt. Dabei hatte er bis dahin für den Familienunterhalt gesorgt. Schließlich stirbt der Mistkäfer Gregor Samsa und die Familie (Mutter, Vater und Schwester) unternehmen ob dieser Erleichterung, die kurz darauf den Ton der Erzählung bestimmt, einen ausgedehnten Tagesausflug.

Auch in der Erzählung „Vor dem Gesetz“ hat der Mann vom Lande keine Aussicht, sein Ziel zu erreichen:

Franz Kafka: Vor dem Gesetz

Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. »Es ist möglich«, sagt der Türhüter, »jetzt aber nicht.« Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: »Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des Dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.« Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und lässt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, dass er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: »Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.« Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die andern Türhüter, und dieser Erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muss sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zu ungunsten des Mannes verändert. »Was willst du denn jetzt noch wissen?« fragt der Türhüter, »du bist unersättlich.« »Alle streben doch nach dem Gesetz«, sagt der Mann, »wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?« Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: »Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.«


Die Erzählung verwendet viele Bilder und lässt beim Leser absichtlich viele Fragen offen: Das Anliegen des Mannes, was er eigentlich in dem Gebäude will, bleibt unbekannt. Im Gegensatz zum Mann vom Lande altert der Türhüter nicht – er könnte ein Engel sein und das „Gesetz“ mit seinem „Glanz“ erinnert an die alttestamentarische Bundeslade mit den Gesetzestafeln. Einerseits wird erwähnt, dass das Gesetz „offen steht wie immer“, andererseits schafft der Mann vom Lande es nicht, auch nur am ersten Türhüter vorbei zu kommen. Offenbar hat er nicht das richtige Material dazu und zunehmend verengt sich auch sein Blick: „Er vergisst die anderen Türhüter“, unternimmt nur Versuche aus eigener Kraft und hat keinen Kontakt zu anderen Menschen. Am Schluss der Erzählung wird überdeutlich, dass er sein Ziel verfehlt und die Chance, die extra für ihn geschaffen war, verpasst hat.

Auf die folgende Erzählung „Heimkehr“ möchte ich ausführlicher eingehen:

Franz Kafka: Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht, an der Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.


Der Text handelt von einem Sohn, der nach langer Zeit wieder nach Hause kommt, jedoch unsicher ist, ob er willkommen ist, sodass er es nicht wagt, in das Elternhaus einzutreten. Der Titel vermittelt dem Leser zunächst eine positive Grundhaltung. Am Ende ist jedoch klar, dass zwischen Vater und Sohn keine echte Beziehung besteht. Der Ich-Erzähler empfindet in den ersten Sätzen seine Rückkehr als Hoffnung. Doch die angenehme Vorstellung der „Heimkehr“ wird schon durch die Beschreibung des Ortes zerstört: „Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe“. Dieser Gegensatz zur Erwartung des Lesers zeigt die Entfremdung des Heimkehrenden vom Ort seiner Kindheit. Die Angst des Ich-Erzählers steigert sich durch die Fragen, die er sich selbst stellt: „Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche?“ Die fehlende Beziehung zu seinem Vater ist ihm deutlich, was er in seiner Wahrnehmung des Hofes ausdrückt: „Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, …“. Ihn quälen Selbstzweifel: „Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen …“.

Durch Horchen versucht er, die Reaktion auf seine Heimkehr zu erraten. Je länger der Erzähler vor der Tür steht, desto geringer wird sein Mut, die Tür zu öffnen und seiner Familie zu begegnen. Die letzte Frage der Erzählung ist nicht einmal mehr mit einem Fragezeichen versehen. Für den Ich-Erzähler ist klar, dass dies nicht mehr sein Zuhause ist und er hat mit der Situation abgeschlossen.

Auch Franz Kafka selbst war Zeit seines Lebens von Unsicherheit und Selbstzweifeln geprägt. Er fühlte sich minderwertig. Seinen Schuldkomplex, den Ansprüchen seines Vaters nicht zu genügen, verarbeitet er in seinen Werken.

Offen für den Leser bleibt auch, woher der Ich-Erzähler heimkehrt: Er könnte Soldat im ersten Weltkrieg gewesen sein. Andere Deutungen sehen in dem Text eine Umkehrung des biblischen Gleichnisses des „verlorenen Sohnes“, das Jesus erzählt:

Der verlorene Sohn

«Ein Mann hatte zwei Söhne», erzählte Jesus. «Eines Tages sagte der Jüngere zu ihm: ‚Vater, ich will jetzt schon meinen Anteil am Erbe ausbezahlt haben.‘ Da teilte der Vater sein Vermögen unter ihnen auf.

Nur wenige Tage später packte der jüngere Sohn alles zusammen, verließ seinen Vater und reiste ins Ausland. Endlich konnte er sein Leben in vollen Zügen genießen. Er leistete sich, was er wollte, bis er schließlich keinen Pfennig mehr besaß. Zu allem Unglück brach in dieser Zeit eine große Hungersnot aus. Es ging ihm sehr schlecht.

In seiner Verzweiflung bettelte er so lange bei einem Bauern, bis der ihn zum Schweinehüten auf die Felder schickte. Oft quälte ihn der Hunger so, dass er froh gewesen wäre, etwas vom Schweinefutter zu bekommen. Aber selbst davon erhielt er nichts.

Da kam er zur Besinnung: ‚Bei meinem Vater hat jeder Arbeiter mehr als genug zu essen, und ich sterbe hier vor Hunger. Ich will zu meinem Vater gehen und ihm sagen: Vater, ich bin schuldig geworden an Gott und an dir. Sieh mich nicht länger als deinen Sohn an, ich bin es nicht mehr wert. Aber kann ich nicht als Arbeiter bei dir bleiben?‘

Er stand auf und ging zurück zu seinem Vater. Der erkannte ihn schon von weitem. Voller Mitleid lief er ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn.

Doch der Sohn bekannte: ‚Vater, ich bin schuldig geworden an Gott und an dir. Sieh mich nicht länger als deinen Sohn an, ich bin es nicht mehr wert.‘

Sein Vater aber befahl den Knechten: ‚Beeilt euch! Holt den schönsten Anzug, den wir im Hause haben, und gebt ihn meinem Sohn. Bringt auch einen kostbaren Ring und Schuhe für ihn! Schlachtet das Kalb, das wir gemästet haben! Wir wollen feiern! Mein Sohn war tot, jetzt lebt er wieder. Er war verloren, jetzt hat er zurückgefunden.‘ Und sie begannen ein fröhliches Fest.

Inzwischen kam der ältere Sohn nach Hause. Er hatte auf dem Feld gearbeitet und hörte schon von weitem die Tanzmusik. Erstaunt fragte er einen Knecht: ‚Was wird denn hier gefeiert?‘ ‚Dein Bruder ist wieder da‘, antwortete er ihm. ‚Dein Vater hat sich darüber so gefreut, dass er das Mastkalb schlachten ließ. Jetzt feiern sie ein großes Fest.‘

Der ältere Bruder wurde wütend und wollte nicht ins Haus gehen. Da kam sein Vater zu ihm und bat: ‚Komm und freu dich mit uns!’Doch er entgegnete ihm bitter: ‚Wie ein Arbeiter habe ich mich all diese Jahre für dich geschunden. Alles habe ich getan, was du von mir verlangt hast. Aber nie hast du mir auch nur eine junge Ziege gegeben, damit ich mit meinen Freunden einmal hätte richtig feiern können. Und jetzt, wo dein Sohn zurückkommt, der dein Geld mit Huren durchgebracht und alles verpraßt hat, jetzt gibt es gleich ein Fest, und du lässt sogar das Mastkalb schlachten!‘

Sein Vater redete ihm zu: ‚Mein Sohn, du bist immer bei mir gewesen. Was ich habe, gehört auch dir. Darum komm, wir haben allen Grund zu feiern. Denn dein Bruder war für uns tot, jetzt hat für ihn ein neues Leben begonnen. Er war verloren, jetzt hat er zurückgefunden!’»

Lukas 15, 11 – 32 (Übersetzung: „Hoffnung für Alle“)

Daniel Ziegler

Der Artikel erschien in „Der Weg“ Internetausgabe 2005