Auch Historiker beurteilen Geschehnisse nicht immer richtig. Deshalb forderte schon der griechische Geschichtsschreiber Thukydides: Ereignisse sollen so erzählt werden, wie sie passiert sind, ohne subjektive Beeinflussung. Dass ein Historiker trotzdem ein großer Wissenschaftler sein kann, zeigt das Beispiel von Theodor Mommsen. Er war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bekannter Wortführer im Bismarck-Reich.
Mommsen wurde 1817 in Schleswig-Holstein als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren. Deutschland bestand damals aus zahlreichen Einzelstaaten (Preußen, Sachsen, Bayern usw.). Sie wurden jeweils von einem Fürsten und nicht von einem Parlament regiert. Viele Deutsche forderten deshalb in der Revolution von 1848 – allerdings vergeblich – die Vereinigung der deutschen Staaten zu einem deutschen Reich und die Regierung durch das Volk in einem Parlament.
Mommsen war Historiker und Jurist, aber auch Politiker. Auch er kämpfte zeitlebens für die Einheit Deutschlands und für eine parlamentarische Demokratie. Er gehörte zu der damals mächtigen liberalen Bewegung im deutschen Bürgertum und war ein Gegner der Konservativen und des Adels. Als Volksvertreter saß er im preußischen Abgeordnetenhaus und später im Reichstag. Er forderte möglichst viel Freiheit für den einzelnen. Seine Gedanken werden heute in Deutschland besonders von der FDP[1] vertreten.
Mommsens historisches Interesse galt dem alten Rom. Zunächst war er Professor in Leipzig. Er wurde aber 1851 wegen seiner Kritik an der sächsischen Regierung abgesetzt. Für zwei Jahre ging er ins Ausland an die Universität Zürich. 1861 wurde er Professor für Römische Geschichte in Berlin. Er war auch Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Seine wichtigsten Werke sind seine „Römische Geschichte“ (1854-85) sowie „Römisches Staatsrecht“ (1871-88) und „Römisches Strafrecht“ (1899). Auch für die Inschriften[2] – und Münzkunde sowie die Rechtsgeschichte lieferte er viele neue Erkenntnisse. Er verstand es meisterhaft, darzustellen und Kritik zu üben.
Mommsen war in seiner Beurteilung der Gegenwart wie der Vergangenheit nicht selten einseitig und widersprüchlich. So verherrlichte er den „liberalen“ Cäsar und verdammte seinen „konservativen“ Gegenspieler Cicero. Ebenso hasste er geradezu den konservativen „Junker[3]“ Bismarck als Vertreter eines „starken“ Staates. Er bekämpfte dessen Schutzzoll- und Sozialpolitik. Er forderte mehr Rechte für die Volksvertretung, den Reichstag.
Mit seinem Hass auf Bismarck verkannte Mommsen die großen Verdienste, die dieser auch hatte, zum Beispiel für die nationale Einigung Deutschlands, die ja auch Mommsens Anliegen war. Trotzdem war Mommsen ein großer Historiker. 1902 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen, ihm, „dem gegenwärtig größten lebenden Meister der historischen Darstellungskunst, mit besonderer Berücksichtigung seines monumentalen Werkes ‚Römische Geschichte'“. Er starb 1903.
Ein Enkel und zwei Urenkel des Gelehrten, auch Mommsen mit Namen, waren ebenfalls bedeutende Historiker im 20. Jahrhundert.
Hans Misdorf
[1] Freie demokratische Partei
[2] die Inschrift: etwas, das auf Stein, Holz oder Metall geschrieben ist
[3] (früher, oft abwertend) adliger Besitzer eines Gutes, Großgrundbesitzer in Preußen (ursprünglich Sohn eines adligen Grundherrn)