Magdeburg, die Stadt Ottos des Großen, blickt auf eine 1200-jährige bewegte Geschichte zurück. Zur Geschichte der Stadt gehört auch eine Frau, deren Name eng mit der Stadt verbunden ist: Mechthild von Magdeburg. Sie wurde vor 800 Jahren auf einer Burg im Magdeburger Raum geboren und erhielt – für damalige Zeiten für Mädchen ungewöhnlich – eine umfassende Bildung. Bereits als junges Mädchen verließ sie die Burg und bekannte offen: „Mein Lebensraum ist nicht der Adelsstand. Gott hat anderes, größeres mit mir vor.“ Gott war für sie nicht einfach eine höhere Macht, sondern ein wirkliches liebendes Du. Diese persönliche Gottesbeziehung erfüllte ihr Leben so, dass sie all das, was sie in der Tiefe ihres Herzens bewegte, aufschreiben musste. Eine große verwandelnde Kraft spürt Mechthild im Gebet. Sie schreibt: „Das Gebet macht ein bitteres Herz süß, ein trauriges Herz froh, ein armes Herz reich, ein törichtes Herz weise, ein zaghaftes[1] Herz kühn, ein schwaches Herz stark, ein blindes Herz sehend. Es zieht den großen Gott in ein kleines Herz. Es treibt die hungrige Seele hinauf zu dem Gott der Fülle[2].“
Mechthild wählt nicht den Weg ins Kloster, sondern schließt sich der Magdeburger Armutsbewegung an, getreu[3] ihrem Vorsatz: „Worauf Gott seine Hoffnung setzt, das wage ich. Es zog mich um der Liebe Gottes willen in die Stadt.“ Das Wort Jesu: „Armen wird das Evangelium verkündet“ (Matthäus 11,5) hatte sie tief berührt. Sie wendet sich den Ärmsten der Armen zu: Ausgestoßenen[4], Kranken, Sterbenden, Witwen und Waisen. Sie schenkt ihnen menschlichen und geistlichen Beistand und – soweit es ihr möglich ist – lindert[5] sie auch deren materiellen und körperlichen Nöte. Mechthild tut diesen Dienst nicht allein. Zu dieser Zeit entsteht in Magdeburg eine Schwesternbewegung. Die jungen Frauen leben in Wohngemeinschaften und teilen ihren Besitz miteinander. Da sie sich nicht den offiziellen Ordnungen der Kirche unterordneten, mussten sie viele Schmähungen[6] und Anfeindungen[7] ertragen. Allein lebende junge Frauen, das galt damals als Skandal. Mechthild war jedoch eine selbstbewusste, tapfere Frau, die ihre Mitschwestern immer wieder ermutigte, ihre Arbeit unter den Hilfsbedürftigen fortzusetzen. Viel Unterstützung und Trost erhielt sie von ihrem Beichtvater, unter dessen Einfluss sie ihr Buch „Das fließende Licht Gottes“ schrieb. Dies Werk war zu Lebzeiten von Mechthild sehr umstritten[8]: Eine Frau, noch dazu ohne Universitätsbildung, schreibt in deutscher Sprache, nicht in Latein – der Sprache der Gelehrten – ein Buch über Gott und ihre Erfahrungen mit der Liebe Gottes. Das war ungewöhnlich, mehr noch: das schien für die Kirche gefährlich zu sein. So verschwand ihr Werk für Jahrhunderte in der Vergessenheit.
Mechthild von Magdeburg war eine Visionärin[9]. Aber ihre visionären Fähigkeiten waren keine Weltflucht. Sie lebte mit Gott in dieser Welt. Mit ihrer Gabe der inneren Gottesschau zeigt sie Linien, die Gott und die Welt miteinander verbinden. Beim Lesen von Mechthilds Schriften bekommt man den Eindruck, als sei sie eine noch lebende Zeitgenossin und nicht eine Frau, die vor 800 Jahren gewirkt hat. Mechthild schreibt: „Die Liebe gebietet mir. Was sie will, das muss geschehen, und worauf Gott seine Hoffnung setzt, das wage ich.“
Mit einer heiligen, liebevollen Aufmerksamkeit liest Mechthild die Bibel. Sie schreibt:
„Vom Weg der Liebe soll mich nichts abtreiben. Eine heilige Aufmerksamkeit zu Gott sollen wir zu allen Zeiten in uns tragen.“
Am Leben der Mechthild von Magdeburg wird erfahrbar, dass die große Liebe zu Gott in der einfachen Liebe und Barmherzigkeit zu den Mitmenschen Realität werden kann, das ist es, „worauf Gott seine Hoffnung setzt.“
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 2/2008
[1] ängstlich
[2] Vollkommenheit
[3] nach
[4] Menschen, die von anderen verachtet werden
[5] geringer machen
[6] Beleidigung, Ehrverletzung
[7] heftige Kritik, Erniedrigung, Feindseligkeit
[8] wurde von vielen verurteilt
[9] Träumerin, Voraussehende