Die alte Mutter saß traurig in ihrem Sessel. Mit zitternden Händen hatte sie den Brief gelesen: bin ich zu 9 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Die verdiente Strafe werde ich absitzen und dann für immer aus Deinem Leben verschwinden. Also vergiss mich. Dein ungeratener[2] Sohn Ludwig. Vergessen? Wie könnte eine Mutter ihr Kind vergessen? Ja, er hatte Unrecht getan, den Meister hintergangen[3], Geld unterschlagen[4]. Dafür saß er jetzt hinter Gittern. Aber er war doch erst 25 Jahre alt, hatte noch zwei Drittel seines Lebens vor sich. Sollte das jetzt sinnlos sein? Es dauerte mehrere Stunden, bis sie den Brief fertig hatte. Sie legte ihn in seine Konfirmationsbibel, diese in eine Schachtel und packte es als Postpäckchen ein. Mit bebendem Herzen betete sie: Lieber Jesus, erbarme dich doch über meinen Sohn. Lass ihn doch wieder auf den rechten Weg zurückfinden.
Am Mittwochabend trafen sich jede Woche einige junge Leute, die sich ehrenamtlich[5] bei der christlichen Gefangenenhilfe Schwarzes Kreuz engagierten. Na, was liegt an? Jemand Neues auf der Liste?, fragte Helene, von allen Leni genannt. Ja, Ludwig Kreuzer, 25, Betrug, Unterschlagung[6], 9 Monate Haft, informierte Ingo kurz und knapp. Er war der Verbindungsmann zu den Hauptamtlichen und zur Haftanstalt und teilte Kontakte ein. Den überlasst mir mal, sagte Leni und faltete die Hände. Jesus, du kannst den Weg zu Ludwig ebnen und mir die rechten Worte für ihn geben.
Die erste Begegnung zwischen Leni und Ludwig verlief einsilbig. Ihm war es peinlich, sich vor der jungen Frau zu öffnen. Leni fragte ihn nach Familie und Freunden. Aber die hatten sich alle von ihm distanziert. Leni wollte sich schon verabschieden, da packte Ludwig die Bibel auf den Tisch. Hat meine Mutter mir geschickt, sagte er leise. Das Buch schien ziemlich ungenutzt[7] zu sein. Leni schlug es auf und las: Berge mögen von ihrer Stelle weichen und Hügel wanken, aber meine Liebe zu dir kann durch nichts erschüttert werden, und meine Friedenszusage[8] wird niemals hinfällig[9].‘ Das sage ich, der HERR, der dich liebt. (Jesaja 54,10). Ist das nicht schön? Das sagt Gott zu dir, wenn Du Dich ihm anvertraust. Ludwig starrte vor sich hin. Dann stieß er hervor. Der will von mir Lump[10] bestimmt nichts mehr wissen, genau wie alle anderen auch! Leni lächelte. Ach Ludwig, da kennst Du Gott aber schlecht. Und mit knappen Worten erzählte sie ihm die Geschichte vom so genannten Verlorenen Sohn. Und wie der Vater in der Geschichte wartet Gott auf Dich. Er möchte Dir all Deine Schuld vergeben und Dir zu einem neuen Leben verhelfen. Fragend schaute Ludwig die Leni an. Und wie soll das gehen? Nun, Du sagst es ihm einfach, so wie Dir ums Herz ist. Und glaube mir, er nimmt Dich als sein Kind an!
An Ludwigs Entlassungstag hatte Leni sich frei genommen, um ihn am Tor des Gefängnisses abzuholen. Als Ludwig merkte, dass Leni ihn in ihrem Auto zu seinem Heimatort fuhr, bekam er es sichtlich mit der Angst zu tun. Was soll das, Leni? Dort wartet niemand auf mich! Leni lächelte. Warts ab. Kaum hielt das Auto, da stand seine alte Mutter in der Tür, die Arme weit ausgebreitet. Willkommen daheim, mein Junge!, rief sie mit zitternder Stimme. Mutter und Sohn fielen sich weinend in die Arme.
In der Stube war der Tisch für drei Personen gedeckt. Doch vor dem Essen wurde gebetet und Gott von Herzen gedankt und um Hilfe für einen Neuanfang für Ludwig gebeten. Der erlebte eine weitere Überraschung. Sie saßen noch zu Tisch, als es an der Tür klingelte und sein ehemaliger Chef eintrat. Er setzte sich in die Runde und sagte, er habe von Ludwigs Entscheidung für Jesus gehört und wolle ihm eine zweite Chance geben. Überglücklich schlug der junge Mann in die ausgestreckte Hand ein. Na, was sagst Du nun?, fragte Leni lächelnd. Da stand Ludwig auf, nahm sie fest in den Arm und sagte: Danke, herzlichen Dank. Du bist ein Engel! Mit Gottes Hilfe will ich es wagen, und ich werde euch nicht enttäuschen!
Gerhard Schäfer
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 4/2007
[1] Gefängnis
[2] ein Mensch, der schlimme Dinge tut
[3] betrügen
[4] stehlen
[5] ohne Bezahlung arbeiten
[6] unterschlagen: unterschlagen: meist Geld oder wertvolle Dinge, die anderen gehören (besonders solche, die man aufbewahren oder verwalten soll), stehlen, veruntreuen
[7] neu, noch nicht benutzt
[8] das Versprechen, dass Jesus uns Frieden schenkt
[9] bleibt für immer gültig
[10] schlechter Mensch