Es war 1980. Ich war gerade dabei, mein Studium an der Moskauer Hochschule für Energiewirtschaft abzuschließen. Eines Tages stand mir ein Gespräch mit der Kommission bevor, die über meinen künftigen Arbeitsplatz zu entscheiden hatte – früher hat man den Arbeitsplatz nach der Absolvierung des Studiums vom Staat zugewiesen bekommen. Ich war mir sicher: Als Christ werde ich weit weg in eine sibirische Stadt geschickt. Es war schon ein Wunder, dass ich überhaupt zu Ende studieren durfte, ohne Komsomol-Mitglied[1] zu sein. Nun war ich dran, vor die schicksalsträchtige[2] Kommission zu treten.
Plötzlich sagt der Kommissionsvorsitzende, ein älterer Professor, dass er mit mir allein sprechen möchte. Wir setzen uns an einen abseits stehenden Tisch. Auf einmal lächelt der Professor und fragt: Na, wo möchtest du denn gerne arbeiten, Sergej?“ Vor Überraschung lächele ich auch und sage: Wenn ich ehrlich bin, in Kiew, Wadim Michajlowitsch!“ Der Professor wird plötzlich ernst: Kennst du denn die Bibel gut?“ – Ich lese und studiere sie ständig“, antworte auch ich ernst. Dann musst du mir erzählen, was die Bibel in meiner Situation zu tun empfiehlt. Kannst du heute Abend mit mir sprechen?“ – Natürlich, sehr gern!“ – Ja, und wegen Kiew sage ich dir Folgendes: Ich gehe dieses Jahr schon in Rente und habe durch eine ungewöhnlich wohlwollende Entscheidung nichts zu verlieren. Ich unterschreibe dir die Zuweisung nach Kiew; die Arbeitsstelle suchst du dann selber. Aber wenn du kannst, besorge mir eine Bibel, damit ich sie selbst lesen kann.“
So wurde die Bibel zu meiner Zuweisung“ nach Kiew, genauso wie sie vier Jahre zuvor zu meiner Einweisung ins neue Leben mit der verheißenen Zuweisung“ in das himmlische Jerusalem[3] wurde. An jenem entscheidenden Herbsttag wurde mir neu bewusst, dass man die Bibel so studieren muss, dass man jeden Moment bereit ist, die Prüfung auf ihren praktischen Einsatz abzulegen.
Ein paar Jahre später war ich auf der Durchreise in Moskau und ging in meine Hochschule, um mich nach dem alten Professor zu erkundigen. Mir wurde die traurige Nachricht mitgeteilt, dass er vor kurzem verstorben sei. Aber Wadim Michajlowitsch bleibt mir mit seiner Frage für immer in Erinnerung: Kennst du die Bibel gut, Sergej?“ Und ich bin mir ganz sicher, dass wir uns dort sehen werden, wo man nur dann eine Einweisung“ bekommt, wenn man das Wort Gottes in sein Herz aufgenommen hat.
Sergej
mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Licht im Osten
[1] Komsomol war die kommunistische Jugendorganisation in der Sowjetzeit
[2] schicksalsträchtig: schicksalsvoll [-trächtig im Adj. drückt aus, dass das im ersten Wortteil Genannte wahrscheinlich eintritt]
[3] das himmlische Jerusalem: Die Bibel spricht im letzten Buch der Offenbarung davon, dass Gott einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen wird, auf der jeder leben wird, der in diesem Leben Gott vertraut. In diesem Zusammenhang spricht sie auch vom himmlischen Jerusalem“ als dem Ort, wo Gottes Volk ewig in Gemeinschaft mit ihm und Christus leben wird (Offb. 21,3f), der Stadt des Friedens durch Ausschluss aller Gottlosigkeit.