Gott macht vor der Mafia nicht Halt

Aufgewachsen bin ich in einer gewöhnlichen sowjetischen Familie. Meine Mutter war Parteimitglied, und mein Vater hatte keine Zeit für mich. Die Lehrer erzählten uns, dass Christen zurückgebliebene[1] Menschen seien. Einmal fragte uns die Lehrerin: „Wie sind die Christen?“ Ich meldete mich und erzählte, was ich behalten hatte. Ich bekam dafür eine gute Note, was bei mir nur selten der Fall war.

Aufgrund meiner Erziehung baute ich in meinem Leben auf Muskeln, Macht und Geld. Schon mit 20 Jahren war ich als Karatekämpfer der sowjetischen Auswahlmannschaft erfolgreich, habe einen Preis in Jugoslawien gewonnen und an der Weltmeisterschaft 1992 in Spanien teilgenommen.

Viele Sportler sind in der Mafia

Heute sind viele Sportler aus der ehemaligen Sowjetunion in der Mafia. Ich gehörte also zu diesen coolen[2] Typen und war einer der Mafiosi der Stadt. Unsere Gruppe bestand aus 500 Männern. Jede Brigade hatte ihr Herrschaftsgebiet, das sie verteidigte. Wir bemühten uns, möglichst viel Geld zu „verdienen“. Sehr einträglich[3] waren die Verhandlungen mit Firmen. Sie mussten monatlich eine bestimmte Geldsumme an uns zahlen. Dafür schützten wir sie vor den Angriffen[4] anderer Brigaden.

Im Angesicht des Todes

Eines Tages suchte ich mit meinem Freund eine Großhändlerin[5] zu Hause auf. Aber wir trafen nur ihre Mutter an. Sie war sehr gastfreundlich und servierte uns Tee. Dann sprach sie über Gott. Sie erzählte so lebendig, dass ihr die Augen glänzten. Ich war sehr interessiert und stellte einige Fragen. Zum Abschied gab sie uns noch mit, in schwierigen Situationen sollten wir uns an Gott erinnern.

Nach dem Essen wollte mein Freund Tennis spielen. Als ich etwas später nachkam, sah ich, dass er sich mit einem aus der anderen Brigade schlug. Ich hielt den Gegner fest und schlug einige Male auf seine Leber ein. Er blieb regungslos[6] liegen. Da rief ich unsere Wachleute zur Hilfe. Jetzt gingen wir zu acht auf die anderen los. Wir wollten sie fertig machen.

Auf einmal hob einer unserer Gegner eine Maschinenpistole hoch und schoss. In diesem Moment schoss[7] mir das Wort „Gott“ durch den Kopf. Ich versteckte mich hinter einem Auto. Der Schütze suchte nach mir, weil ich seinen Freund stark verletzt hatte. Ich sah, wie er auf das Auto zuging. Doch plötzlich drehte er sich um und ging davon. Nur einen Schritt weiter, und ich wäre tot gewesen.

An diesem Abend hatten wir vier Tote und drei Schwerverletzte. Ich dagegen kam ohne einen einzigen Kratzer[8] davon! Ich lief noch stundenlang durch die Stadt. „Gott existiert! Gott existiert wirklich!“, dachte ich die ganze Zeit. Als ich nach Hause kam, spürte ich Gottes Anwesenheit. Es war, als ginge es mir durch Mark und Bein[9]. Ein paar Tage später traf ich einen Christen. Er sagte zu mir: „Gott erwählt dich und möchte mit dir Gemeinschaft haben.“ In meiner Schlechtigkeit[10] fragte ich: „Was will er von mir?“ Ich hörte: „Er will nichts von dir. Er liebt dich ganz einfach.“ Aber auch nach diesem Erlebnis wurde ich noch längst kein Christ.

Zusammenbruch und Neuanfang

Ein paar Monate später gab es Probleme in meiner Brigade. Gelder waren verschwunden, und meine Kollegen schoben es mir in die Schuhe[11]. Auch mein Platz innerhalb der Brigade war begehrt[12]. Ich hörte, dass ich „aus dem Weg geräumt[13]“ werden sollte und beschloss, nicht mehr zu „arbeiten“. Außerdem dachte ich: „Wenn Gott existiert, dann muss ich mich vor ihm verantworten.“ Ich versuchte, nicht mehr ganz so schlimme Sachen zu machen, aber der Teufel ließ mich nicht los. Kurze Zeit später ging alles weiter wie vorher.

Plötzlich bestellte mich ein Kommissar der Verbrechensbekämpfung aufs Revier[14]. Er sagte: „Ich kann dich ins Gefängnis bringen, und da kommst du so schnell nicht wieder raus! Aber, dich braucht doch niemand mehr. Wenn du aber für mich arbeitest, ist alles vergessen.“ Trotz vieler Bedenken[15] sagte ich zu, weil ich keine andere Wahl hatte.

Das war der letzte Tag, den ich in meiner Stadt verbrachte. Ich kaufte ein Bahnticket. Jetzt war ich nicht mehr der coole, in der ganzen Stadt gefürchtete Viktor. Ich las in der Bibel, die ich mitgenommen hatte: „Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Frieden geben“ (Mt.11, 28). Dieser abgekämpfte[16] und belastete[17] Mensch war ich! Ich war fertig[18] und wusste nicht, was mir bevorstand oder wem ich noch trauen konnte. Früher dachte ich, dass unsere Brigade ein festes Fundament ist. Jetzt brach alles unter meinen Füßen zusammen. Dann las ich die Geschichte vom verlorenen Sohn. Sie hätte meine Geschichte sein können.

Ohne Gott hätte ich das nicht überlebt

Bisher brachte ich andere zum Weinen, jetzt lag ich da und weinte. Dann wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und ging auf die Toilette. Dort war es nass, dreckig und es stank. Genauso sah es in mir aus. Ich fing an zu beten und bat Gott um Vergebung. In diesem Moment wusste ich, dass er mein Gebet erhört hatte und in mein Herz gekommen war. Ich bekam die Gewissheit, dass sich alles zum Guten wenden würde. Von diesem Augenblick an spürte ich, dass ich Christ geworden war.

Wäre Gott nicht gewesen, dann hätte ich diese langen Monate der Einsamkeit, weit weg von meiner Familie, nicht überlebt. Meine Frau wurde einige Zeit später auch gläubig. Rückblickend sehe ich, wie Gott mich bewahrte und (an)leitete. Ich habe bis heute noch keinen einzigen Tag bereut[19], dass ich Christ geworden bin.

Viele Menschen geben sich auf, weil sie den Sinn im Leben nicht finden. Aber das Leben mit Gott gibt dem Leben einen Sinn und ein Ziel.

Viktor Aleksejenko

Gekürzt entnommen aus Logos Info 2/00

[1] zurückgeblieben: (hier) in der geistigen Entwicklung nicht der Norm entsprechend (wird häufig als abwertend empfunden)
[2] cool: besonders von Jugendlichen verwendet; ruhig, gelassen und überlegen; verwendet, um jemanden / etwas sehr positiv zu bewerten
[3] einträglich: so, dass sie jemandem relativ viel Geld bringen – rentabel
[4] der Angriff: der Beginn eines Kampfes gegen jemanden / etwas, um ihn / es zu schädigen oder zu zerstören (meist mit Waffen)
[5] die Großhändlerin: Händlerin, die Waren in großen Mengen bei den Produzenten einkauft und an einzelne Geschäfte weiterverkauft
[6] regungslos: ohne jede Bewegung
[7] etwas schießt (geht) jmdm. durch den Kopf: etwas fällt jemandem plötzlich ein
[8] der Kratzer: eine kleine Wunde oder kaputte Stelle, die durch Kratzen entstanden sind – Schramme
[9] etwas geht jmdm. durch Mark und Bein: etwas ist so intensiv, dass es sehr unangenehm für jemanden ist
[10] die Schlechtigkeit: das Schlechtsein, die Boshaftigkeit
[11] jmdm. etw. in die Schuhe schieben: gespr; jemandem die Schuld für etwas geben, das er nicht getan hat
[12] begehrt: (hier) sehr gewollt oder gewünscht; beliebt
[13] jmdn. aus dem Weg räumen: jemanden ermorden
[14] das (Polizei)Revier: (hier) das Gebäude der Polizei, die ein bestimmtes Gebiet kontrolliert
[15] das Bedenken: Zweifel oder Befürchtungen in Bezug auf jemanden / etwas
[16] abgekämpft: sichtbar müde oder erschöpft
[17] belasten: jemandes psychische oder physische Kräfte stark beanspruchen oder strapazieren
[18] fertig: (hier) müde und erschöpft
[19] bereuen: an eine eigene Tat denken und dabei wünschen, dass man sie nicht getan hätte