Das älteste deutsche Schriftstück „Das Wessobrunner Gebet“- ein Lobpreis auf Gottes Herrlichkeit:
„Das erfuhr ich bei den Menschen
als das erstaunlichste Wissen:
dass die Erde nicht war, noch das Firmament,
weder Baum noch Berg,
kein Stern und auch die Sonne nicht schien,
noch der Mond leuchtete,
und auch das herrliche Meer nicht war.
Als da nichts existierte,
da war der eine allmächtige Gott,
das freigebigste[1] aller Wesen.
Und bei ihm waren viele herrliche Geister.
Und Gott ist heilig.
Gott, allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen und den Menschen
so viel Gutes gegeben hast, gewähre mir in Deiner Güte rechten Glauben
und guten Willen, Weisheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und
das Böse zu meiden und Deinen Willen zu tun.“
Dieses kostbare Sprachdenkmal ist von einem unbekannten Mönch um das Jahr 800 verfasst worden. Wessobrunn ist ein kleiner, idyllischer Ort mit einer berühmten alten Benediktinerabtei in Oberbayern. Die Mönche des Benediktinerordens, reich an Wissen und zupackend[2] in der praktischen Arbeit, waren nicht nur eine vorbildliche Gemeinschaft christlichen Lebens, sondern unterstützten die einheimische ländliche Bevölkerung beim Roden der Wälder und beim Ackerbau.
Obwohl das Gedicht nicht in Wessobrunn entstanden ist, trägt es den Namen „Wessobrunner Gebet“ zu Recht, denn es wurde über viele Jahrhunderte im Kloster Wessobrunn aufbewahrt. Der Text ist in einem frühen Althochdeutsch geschrieben, einer Form der deutschen Sprache, die um 600 bis in die ersten Jahrzehnte des 11. Jahrhunderts dauerte. Zu dieser Zeit gelangte das geistige Leben in den Klöstern bereits zu einer ersten Blüte. Die Mönche pflegten Literatur und Dichtung nicht nur in Latein, sondern auch in der Sprache des Volkes, sie gründeten Schulen, sorgten sich um die Erziehung und natürlich um die Unterweisung in den Grundlagen des christlichen Glaubens. So entwickelte sich in den Klöstern die Kunst des Schreibens und des Büchermachens. Unterrichtsfächer waren nicht nur das „Studium der Heiligen Theologie“, der Lehre vom Erlösungswerk Gottes für uns Menschen, sondern auch Latein, Rhetorik und Kirchenmusik.
Ein wichtiges Anliegen der Benediktinermönche in Wessobrunn war die Mission, die Unterweisung der Menschen im Christentum. Eine große Schwierigkeit bestand darin, die weit verstreut und einsam lebenden Menschen überhaupt zu erreichen. Im 8. Jahrhundert gab es in Bayern noch ausgedehnte Urwälder, das Land war kaum besiedelt. Die einfachen Menschen hielten zäh[3] am Heidentum und an okkulten Praktiken fest. Die Mönche zogen durchs Land, getreu dem Auftrag Jesu: “ Geht hin, macht alle Völker zu Jüngern, tauft sie auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles zu halten, was ich euch geboten habe.“ (Matt.28,19-20)
Dies ist das zentrale Vermächtnis des Auferstandenen an seine Jünger.
Dem Verfasser des „Wessobrunner Gebets“ ist es wichtig zu zeigen, dass die Schöpfung zu einer Zeit nicht war, dass von all den Dingen, die uns so schön und lebenswichtig erscheinen, nichts existierte. Das heißt, die Schöpfung hat einen Anfang. Sie ist im Gegensatz zu Gott nicht ewig. Gott aber war, als sonst “ nichts existierte“, er war immer, er ist ewig. Der Dichtermönch preist den ewigen Gott in großer Demut. Als Quelle diente ihm die Bibel. Wir werden beim Lesen des Gedichts erinnert an Psalm 90,2: Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“– Oder auch an Textstellen aus dem Buch der „Sprüche“: „…Als ER die Luftschichten oben festigte und die Wasserquellen abwog, als ER dem Meer ringsum Grenzen setzte und dem Wasser gebot, ihre Grenzen nicht zu überschreiten, als ER die Grundfesten der Erde feststellte, da war ich bei ihm..“
Die Allmacht und die Heiligkeit Gottes werden im „Wessobrunner Gebet“ in großartiger Weise gepriesen und machen das Gedicht zu einem eindrucksvollen „Te Deum laudamus“[4] bis auf den heutigen Tag.
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 2/2010
[1] hat hier die Bedeutung von „gnädig, barmherzig“
[2] fleißig
[3] beharrlich
[4] Gott loben wir