Warum ich die Schweiz so liebe

Erlebnisse eines Deutschen in der Schweiz.

Den folgenden Artikel hat ein in Deutschland bekannter christlicher Schriftsteller für den „Weg“ geschrieben. Darin gibt er Einblicke in einige Erlebnisse, die er in der Schweiz gehabt hat und die ihm noch gut in Erinnerung sind. Wir sind Herrn Pagel sehr dankbar für diesen Bericht und hoffen, daß er auch vielen unserer Leser einige Eindrücke aus der Schweiz vermitteln kann.

Keine Trümmer, sondern eine heile Welt

Der erste Schweizer, den ich in meinem Leben näher kennenlernte, war ein überzeugter Christ. Durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen waren die Deutschen in der Welt nicht gut angesehen. Aber doch suchten bald die ersten Ausländer wieder Kontakt zu uns. Zu ihnen gehörte auch Edgar Schmid aus der Schweiz.

Ich traf ihn auf einer christlichen Tagung nach 1945. Er streckte mir liebevoll die Hand hin und umarmte mich. Mir kamen die Tränen, als aus seinem Herzen die Worte auf seine Lippen kamen: „Wir gehören im Glauben an Jesus Christus zusammen. Wir sind und bleiben Brüder.“ Damit war eine Freundschaft begründet, die bis heute gehalten hat. Und für mich steht es fest, und ich habe es sehr oft erfahren: Nichts verbindet Menschen über alle Grenzen von Nationen, Sprachen und Kulturen hinweg so tief und echt wie der Glaube an Gott und seinen Sohn Jesus Christus, der der Heiland der Welt ist.

Edgar Schmid ließ nun nicht locker, bis er für mich eine Einladung in die Schweiz bekommen hatte. Es gab damals noch keinen selbständigen deutschen Staat, sondern das besiegte Deutschland war in vier Besatzungszonen aufgeteilt: in die amerikanische, die englische, die französische und in die sowjetische Zone. Ich wohnte in der englischen Zone, und bei den englischen Besatzungsbehörden mußte mein Visum für einen Besuch in der Schweiz beantragt werden. Die Sache gelang! Es kam mir wie ein Wunder vor.

War das ein Gefühl, als der Zug aus dem in Trümmern liegenden Nachkriegsdeutschland über die Grenze nach Basel, die erste schweizerische Stadt, einfuhr. Eine heile Welt nahm mich auf. Ein Stadtbummel zeigte lauter saubere Häuser und volle Schaufenster. Zum ersten Mal genoß ich damals auch die unübertreffliche Schweizer Schokolade!

Die Schweiz ist flächenmäßig ein kleines Land. Fast zur Hälfte konnte ich sie bei meinem ersten Besuch kennenlernen. In manchen Kirchen und Sälen durfte ich das Evangelium von Jesus Christus verkündigen. Es gab keine Schwierigkeiten mit der Sprache, da im größten Teil der Schweiz Deutsch gesprochen wird.

Der wiedergefundene Hut

O Schreck! Bei meiner ersten Reise in die Schweiz passierte mir ein Unglück mit meinem Hut. Meine Frau hatte mir besonders ans Herz gelegt, darauf aufzupassen. Und da lasse ich das gute Stück beim Umsteigen in einem Abteil der SBB (Schweizer Bundesbahn) liegen! In Interlaken, einem bekannten Schweizer Kurort, meldete ich den Verlust beim Fundbüro des Bahnhofs. Ich hatte auf der Reise einige Male umsteigen müssen, und so konnte ich dem Bahnbeamten nicht genau sagen, wo ich den Hut liegengelassen hatte. Aber nach einem Anruf klärte sich die Sache auf: Der Hut war gefunden worden! Sofort wurde er als Eilgut nach Interlaken geschickt, und schon bald saß er wieder auf meinem Kopf. Ich konnte nur staunend sagen: „Ehrliche, hilfsbereite Schweiz!“ Und ich wage zu behaupten, daß sie dies bis heute geblieben ist.

Drei Wunder

Meinem ersten Besuch in der Schweiz im Frühling 1949 sind viele weitere gefolgt. Besonders beeindruckt hat mich dabei immer wieder die wunderbare Natur. Berge, Seen, Wasserfälle, blumenübersäte Wiesen, seltene Pflanzen wie der Enzian, eine verschwenderische Blumenpracht in Hauskästen in Land und Stadt – was wäre da noch alles aufzuzählen! Zur Natur kommt die Kultur, z. B. im Baubereich mit mittelalterlichen Häusern, Türmen, Schlössern, Burgen und Kirchen! Es ist nicht schwer, an ein solch liebliches Land ein Stück seines Herzens zu verlieren.

Das Blümlein im Schnee

Aber nun der Bericht von den drei Wundern. Worin haben sie bestanden? Das erste Erlebnis: Ich mache einen winterlichen Spaziergang. Verschneit liegen die Wiesen da. Der Frühling scheint noch weit zu sein. Aber da sehe ich am Rand eines Bergpfades ein Stückchen freier Erde. Und darauf erhebt sich ein winziges Blümlein in gelber, leuchtender Pracht. Ringsum Winter, mitten darin der erste Vorbote des Frühlings! In diesem kleinen „Wunder“ am Wegrand geht mir neu die Herrlichkeit Gottes, des Schöpfers, auf. Es gehört auch in anderen Bereichen zu Gottes Gewohnheit, daß er seine Kinder mit kleinen Freuden und Aufmerksamkeiten beschenkt. Man muß nur die Augen dafür haben und ein Herz, das sich dadurch zum Danken bewegen läßt.

Das Matterhorn

Jetzt vom unscheinbaren Blümlein zum berühmtesten Berg der Schweiz, dem Matterhorn! Wir sind bis zum Gornergrat hinaufgefahren, wo man die Nacht in der Herberge verbringen kann. Wenn das Wetter mitmacht, hat man dann am Morgen den grandiosen Anblick des Matterhorns und anderer Berge von über 4000 Meter Höhe in seiner Umgebung.

Wir aber scheinen einen enttäuschenden Zeitpunkt gewählt zu haben. Es ist alles in Dunst und Nebel gehüllt, als wir uns abends auf dem Gornergrat zur Ruhe begeben. Die Nacht bringt ein Gewitter mit heftigem Regen. Und dann die Überraschung, als wir am nächsten Morgen zaghaft aus dem Fenster schauen: Der Himmel ist blau, das Matterhorn bietet sich in seiner ganzen Schönheit unverhüllt bis zum Gipfel dar. Die angrenzenden Viertausender, auf die statt Regen Schnee gefallen ist, sehen nicht weniger faszinierend aus. Einmalig! Unvergeßlich!

Wir schauen und schauen, staunen und staunen. Es dauert lange, bis wir uns von diesem großartigen Naturschauspiel trennen können. O, welche Größe des Schöpfers im leuchtenden kleinen Blümlein und im schneebedeckten Alpenriesen!

Warum läßt Gott das zu?

Das dritte Wunder, von dem ich abschließend erzählen möchte, ist von völlig anderer Art. Es gehört nicht in den Raum der Schöpfung hinein, sondern in den Raum des Glaubens. Ich habe es in dem Erholungs- und Wintersportort Adelboden im Berner Oberland erlebt. Ein furchtbares Unglück war dort passiert, das ich nicht ausmalen möchte. Ein neunjähriger Junge war dabei umgekommen. Ich nehme an der Trauerfeier teil. Bei den Eltern und Verwandten, aber nicht nur bei ihnen, fließen manche Tränen. Die Frage steht im Raum: Wie und warum kann Gott so etwas geschehen lassen?

Der Pfarrer sagt, nachdem er eine Ansprache gehalten hat: „Jetzt singen wir noch ein Lied, das die Eltern gewünscht haben. Es war das Lieblingslied ihres Jungen, das er im Kindergottesdienst gelernt hat.“ Ich bin sehr gespannt, wie dieses Lied heißt. Zuerst bin ich erschrocken, als das Lied angesagt wird: „Gott ist die Liebe, läßt mich erlösen. Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“

Mir stockt fast der Atem: ein solches Lied, in einer solchen Situation? Das ist doch unmöglich, unmenschlich! Wer die Kraft hat, es mitzusingen, dem geht es bestimmt nicht leicht über die Lippen. Das Lied hat insgesamt neun Strophen, und immer wieder werden die Worte wiederholt: „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“

Was ist denn die Liebe Gottes in dem traurigen Geschick des kleinen Christian? Nein, allein aus unserem menschlichen Erleben ist es oft nicht zu erkennen und abzulesen, daß es einen Gott der Liebe gibt. Wieviel Dunkles, Rätselhaftes, Unbegreifliches bricht immer wieder über Menschen herein. Die Liebe Gottes erkennen und an ihr festhalten, was immer auch in unserm Leben geschieht, ist nur dem möglich, dem das Kreuz Christi in sein Blickfeld tritt.

Gott ist die Liebe

In dem Lied, das bei der geschilderten Beerdigung gesungen wurde, ist gleich im ersten Vers von der Erlösung die Rede. Und etwas später heißt es: „Gott sandte Jesus, den treuen Heiland.“ Ja, in Jesus ist das Herz Gottes in seiner Liebe zu uns weit aufgetan. Wo ist die Liebe Gottes klar und überzeugend zu sehen? Auf Golgatha, wo Jesus Christus sich für uns geopfert und unsere Sünden ans Kreuz getragen hat. Wer an ihn glaubt, wird ein Kind Gottes und erlangt das ewige Leben.

Wenn wir auf den gekreuzigten Christus schauen, dann wird uns das viele Leid auf dieser Erde zwar immer wieder traurig machen. Aber dann können wir auch das Lied anstimmen, wie es die Eltern in dem Schweizer Bergdorf taten: „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich.“ Die herrlichen Berggipfel in der von mir so geliebten Schweiz können in Schmerz und Tod keinen Trost spenden. Solcher Trost kommt anderswoher, von jenem Ort, von dem der Dichter singt:

„Doch über alle Berge,
die ich auf Erden sah,
geht mir ein stiller Hügel,
der Hügel Golgatha.“

Welch ein Wunder, das sich dort ereignet hat! Und welch ein Wunder, daß wir damals in Adelboden bei diesem traurigen Ereignis dieses Lied anstimmen konnten. Und welch ein großes Wunder wird es sein, wenn alle, die an Christus glauben, in der Ewigkeit bei Gott einmal erfahren werden, warum Gott auch Leid und schwere Rätsel von unserem Leben nicht fernhielt. Dann gibt es keine Ungewißheit mehr und kein Dunkel, dann wird alles hell und klar. Dann hindert uns nichts mehr daran, zu sagen: „Gott, du hast alles gut gemacht!“ Und wir werden singen wie nie zuvor: „Gott ist die Liebe, er liebt auch mich!“

Arno Pagel