Weihnachtsgedichte

Der Dezember

Das Jahr ward[1] alt. Hat dünnes Haar.
Ist gar nicht sehr gesund.
Kennt seinen letzten Tag, das Jahr.
Kennt gar die letzte Stund.
Ist viel geschehn. Ward viel versäumt.
Ruht beides unterm Schnee.
Weiß liegt die Welt, wie hingeträumt.
Und Wehmut[2] tut halt weh.
Noch wächst der Mond. Noch schmilzt er hin.
Nichts bleibt. Und nichts vergeht.
Ist alles Wahn[3]. Hat alles Sinn.
Nützt nichts, dass man’s versteht.
Und wieder stapft der Nikolaus
durch jeden Kindertraum.
Und wieder blüht in jedem Haus
der goldengrüne Baum.
Warst auch ein Kind. Hast selbst gefühlt,
wie hold[4] Christbäume blühn.
Hast nun den Weihnachtsmann gespielt
und glaubst nicht mehr an ihn.
Bald trifft das Jahr der zwölfte Schlag.
Dann dröhnt[5] das Erz[6] und spricht:
„Das Jahr kennt seinen letzten Tag,
und du kennst deinen nicht.“

Erich Kästner

Vereister See (Bild: Der Weg)

Der Artikel erschien in „Der Weg“ 4/2004

[1] Die Form ward ist die ursprüngliche, heute seltene Form der 1. und 3. Person Singular Indikativ Präteritum von werden: ich ward; er, sie, es ward; dafür heute üblich: ich wurde; er, sie, es wurde
[2] die Wehmut: eine leichte Trauer oder ein stiller Schmerz bei der Erinnerung an etwas Vergangenes
[3] der Wahn: eine unrealistische, oft krankhafte Vorstellung oder Hoffnung
[4] hold: sehr zart und hübsch – anmutig
[5] dröhnen: lange, laut und dumpf tönen
[6] das Erz: hier verwendet als Synonym für „Glocke“ (aus Bronze)