Marburg, Universitätsstadt mit Geschichte ***
„Wenn das hier nur eine Stadt wäre, – aber es ist ja ein mittelalterliches Märchen.“ Dies schrieb der russische Dichter und Nobelpreisträger Boris Pasternak über die ca. 80.000 Einwohner zählende Stadt Marburg an der Lahn. Er studierte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der hessischen Universitätsstadt. Noch heute kann man die Studentenkneipe „Die Sonne“ besuchen, die auch er oft aufsuchte.
Malerische Altstadt
Das Lokal liegt zusammen mit vielen anderen in der bergigen Altstadt unterhalb des Schlosses. Verwinkelte[1] Gassen, unzählige Treppen und historische Fachwerkhäuser, die zum Teil krumm und schief am Hang erbaut wurden – hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Ein besonderes Erlebnis ist eine nächtliche Stadtführung. Dabei trifft man immer wieder junge Leute, denn jeder vierte Marburger Bürger ist Student. Modernisierungen wurden ganz behutsam[2] eingefügt. So findet man den Aufzug, der von der „Unterstadt“ nach oben in die Altstadt fährt, nur, wenn man der Beschilderung folgt oder sich gut auskennt.
In der historischen Kulisse[3] fällt die Elisabethkirche auf – eine der frühsten und schönsten gotischen Hallenkirchen Deutschlands. Bis zur Zeit der Reformation war sie auch eine der bedeutendsten Wallfahrtsstätten des Abendlandes. Sie wurde ab 1235 über dem Grab der ungarische Königstochter Elisabeth erbaut. Als Witwe des Landgrafen Ludwig I. von Thüringen verließ sie die Wartburg in Eisenach und gründete in Marburg ein Hospital. Ihre Tochter Sophie von Brabant rief im Jahr 1248 am Marktplatz von Marburg das Land Hessen aus.
Ein imposantes[4] Schloss
Landgraf Philipp der Großmütige[5] gründete 1527 in Marburg mit der Philipps-Universität die erste protestantische Universität der Welt. [6] Im Jahr 1529 lud Landgraf Philipp die Reformatoren Luther und Zwingli zum Religionsgespräch ins Landgrafenschloss ein. [7] Er wollte damit die zerstrittenen Richtungen des Protestantismus versöhnen. Es konnte jedoch keine vollständige Einigung erzielt[8] werden.
Vom Schloss aus, das der Stadt auch ihren Namen gab, hat man einen der schönsten Rundblicke über die Stadt. Man bemerkt aber auch gleich, dass das Schloss strategisch[9] ungünstig liegt, denn von den Hügeln in der Umgebung konnte es leicht beschossen werden. Allein im siebenjährigen Krieg wechselte es sechs Mal den Besitzer. Schließlich zogen sich die hessischen Landgrafen nach Kassel zurück.
Zentrum im Nordwesten Hessens
Eine besondere Einrichtung ist die Blindenschule in Marburg. Hier werden Lehrer für Blinde ausgebildet, die zum Teil selbst blind sind. Wer sich für Anatomie[10] interessiert, wird das Marburger Anatomicum kennen. Hier wird eine in Deutschland einmalige Sammlung von etwa 4000 anatomischen Präparaten ausgestellt. Viele Ausstellungsstücke erzählen Geschichten. Zum Beispiel die vom „Marburger Lenchen“, das sich in die Lahn gestürzt haben soll, weil sie schwanger war. Da ihre Familie sie nicht beerdigen wollte, kam ihr Leichnam in die Anatomie.
Neben Pasternak brachte die Marburger Universität mehrere Nobelpreisträger hervor, z. B. Emil von Behring, den Erfinder der Serumstherapie[11].
In der Alten Universität (1872-91), erbaut auf den Grundmauern des Dominikanerklosters aus dem späten 13. Jh., bietet die Alte Aula[12] mitten im bunten studentischen Leben einen einmaligen Einblick in die Geschichte der Stadt Marburg.
Gabriele Kuhn
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 4/2004
[1] verwinkelt: eng und mit vielen Ecken und Kurven
[2] behutsam: sehr vorsichtig
[3] die Kulisse: (hier) die Umgebung, der Hintergrund
[4] imposant: sehr eindrucksvoll
[5] Vor 500 Jahren – am 13. November 1504 – wurde Landgraf Philipp der Großmütige geboren.
[6] Heute hat die Universität ca. 18.000 Studenten in 17 Fachbereichen.
[7] Im sogenannten“Marburger Religionsgespräch“ reformatorischer Theologen stand die Abendmahlslehre im Mittelpunkt.
[8] Einigung über etwas erzielen: sich über etwas einigen
[9] die Strategie: Plan, Handlungen, mit/besonders ein politisches, militärisches oder wirtschaftliches Ziel erreichen will
[10] die Anatomie: die Wissenschaft vom Körperbau des Menschen und der Tiere und vom Bau der Pflanzen
[11] das Serum: eine Flüssigkeit (oft aus dem Blut von Tieren gewonnen), die man Menschen ins Blut spritzt, um sie gegen bestimmte Krankheiten und Vergiftungen zu schützen
[12] die Aula: ein großer Saal (besonders in Schulen) für Veranstaltungen oder Versammlungen