Geschichte und Gegenwart: Nirgendwo sonst in Deutschland sind Vergangenheit und Zukunft enger miteinander verwoben als in Berlin. Die Hauptstadt, ein Porträt.
Schon einmal, in den zwanziger Jahren der Weimarer Republik, genoss Berlin einen unvergleichlichen Ruf gerade wegen seiner unverhüllten Widersprüche. Oben und unten, Arm und Reich teilte die damals noch größere Stadt. Heute kommt der Spalt zwischen Ost und West hinzu, ja, der vor allem. Zwar verschwindet die „Mauer in den Köpfen“, die gläserne Mauer, und für Studentinnen und Studenten, die es an die Humboldt-Universität (vormals Ost) oder an die Freie Universität (vormals West) lockt, existiert diese Trennlinie ohnehin nicht mehr wirklich. Auch nicht für die Bonner, die mit dem Regierungsumzug in die Stadt kamen, oder für die „Nouveaux riches“ aus aller Welt, die unbedingt um den Prenzlauer Berg und seinen Kollwitzplatz herum wohnen möchten. Hier wird Ostberlin runderneuert. Derart rapide und konsequent spielt sich das ab, dass man sich wünschte, einer der großen Schriftsteller und Soziologen der 1920er-Jahre wie Siegfried Kracauer oder Walter Benjamin könnte sich darauf stürzen. Aber immerhin, der Berliner Russe, der Schriftsteller Wladimir Kaminer, hat sich hier eingenistet oder der türkische Deutsche Feridun Zaimoglu. Da und dort wird Berlin tatsächlich „Schmelztiegel“. Wirklich durchmischt aber haben Ost und West sich nach dem Mauerfall und trotz der zahlreichen Neu-Berliner nicht.
Berlin hat die mit Abstand größte türkische Gemeinde Deutschlands, ja die größte außerhalb der Türkei. Sie lebt im Westen (besonders in Kreuzberg und Neukölln), nicht im Osten. Als integriert gilt sie, in erstaunlichem Maße. Beim „Karneval der Kulturen“, einem Straßenfestival mit Millionenpublikum, offenbart sich dieses bunte Nebeneinander selbstbewusst. Das bestechende Bild eines pluralen, auch duldsamen Berlin hat das weiter befördert. Nur: Immer mehr Jugendliche in den klassischen Berliner Arbeitergevierten und jenen mit sehr hohem Ausländeranteil bleiben chancenlos Berlin, traditionell eine arme Stadt, eine der kleinen Leute, wird eben auch in dem Sinne wieder modern, nämlich ein Soziallabor für die Bundesrepublik generell.
Musik, Kunst, Theater, Museen, das alles gibt der Stadt jenes Metropolen-Flair, bei dem man glatt vergessen könnte, dass sie in vielerlei Hinsicht auch provinziell geblieben ist. Dorf neben Dorf. Bildet das Dach darüber die „politische Klasse“, die endgültig vor acht Jahren hierher übersiedelte? Parlamentsdebatten, die Koalition, die Aufregungen vom Tage, das konkurriert hier mit vielen anderen „events“, und eine gewisse Relativierung ist vielleicht auch ganz heilsam gewesen. Berlin hatte dringend einen Schuss an Inspiration, innerem Selbstbewusstsein, Neuanfangsgefühl nötig und Ironie der Geschichte, ausgerechnet aus der „Provinz“ ist dieser Impuls gekommen. Das ist die historische Pointe: Das föderale, in viele Zentren und Städte gegliederte Deutschland mit seinem lebendig Provinziellen hat am Ende der Hauptstadt jenen Geist wieder eingehaucht, der ihr in den Jahren der Teilung abhanden kam.
Natürlich ist damit auch Hektik und Scheinerregung eingezogen in Berlin. Oft bewegen sich Medien und Politik im Kreis. Eine „Berliner Republik“, die sich selbst überschätzt, ist aber nicht daraus erwachsen. Für jeden bietet Berlin sich als Projektionsfläche an, aber eben jeweils für anderes. Baut man eine „Topographie des Terrors“, um sich den Gästen aus aller Welt in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu stellen oder um die Vergangenheit insgeheim loszuwerden? Kanzler Schröder sah in solchen Erinnerungsstätten, ja in Berlin überhaupt, vornehmlich deutsche Geschichte. Seine Nachfolgerin Angela Merkel empfindet die Stadt in deren Ostteil sie schon als junge Wissenschaftlerin lebte als Sinnbild von Teilung und Wiedervereinigung. Im Ernst wird aber keiner behaupten können, hier sei Deutschland neu erfunden worden oder offenbare sich in einer neuen nationalen Selbstverliebtheit. Nein, in Berlin knüpft das wiedervereinte Deutschland verblüffend klar an das an, was die Bundesrepublik Deutschland in Jahrzehnten gelernt hat. Sie möchte zivil und sie will europäisch orientiert bleiben.
Die Welt wird, seit 1989 und seit dem 11. September 2001, neu geordnet, und das wirkt zurück. Die Stadt wirkt modern, aber diffus wirkt sie auch. Sie ist kleingroß und neualt und a-modern und zeitgemäß. Viel von der Seelenlage der Republik drückt sie aus; um ein bisschen mehr Schein als Sein ging es allerdings Deutsche Sehenswürdigkeiten Brandenburger Tor in Berlin immer, und es wäre ein Wunder, verhielte es sich jetzt anders. Das macht die Berliner Luft: Man blickt nach innen und denkt, es sei die Welt oder auch nur die Bundesrepublik.
(Dr. Gunter Hofmann Chefkorrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“.)
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Der Artikel erschien in „Der Weg“ 3/2010