Geschichte der deutschen Sprache ****
Endlich hat Tanja die Möglichkeit, nach Deutschland zu fahren. Sie besucht Heidelberg, München, Weimar und Hamburg. Aber als sie die Menschen sprechen hört, fragt sie sich: Sprechen die Menschen dort wirklich dieselbe Sprache, wirklich Deutsch?
So wie Tanja ist es sicherlich schon vielen ergangen. Gerade bei Menschen, die schon lange an einem Ort leben, treten regionale Unterschiede der Dialekte sehr deutlich hervor. Wie ist diese Erscheinung zu erklären?
Sprache ist keine feststehende Einheit sie ist sehr wandelbar. Vom Germanischen[1] sind erste Zeugnisse aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. bekannt. Nun ist es nicht so, dass die Entwicklung von einer germanischen Ursprache ganz zielstrebig und überall in der gleichen Art und Weise verlaufen ist, sondern es treten regionale Besonderheiten hervor.[2] Zusätzlich muss man sich vergegenwärtigen[3], dass das Mittelalter über weite Strecken eine recht schriftarme Zeit war. Lesen und Schreiben zu können war über lange Zeit Markenzeichen[4] und Privileg des KlerusReklame[5]. Vorwiegend aus ihren Reihen stammen z. B. die Geschichts- und Kanzleischreiber[6]. Erst ab dem so genannten Hohen Mittelalter, das im deutschen Gebiet mit der zunehmenden Übernahme der französischen Hofsitten zu Beginn des 13. Jahrhunderts angesetzt wird, tritt uns ein weiterer Stamm an Schreibern stärker entgegen: Die fahrenden Dichter und Sänger. Deren Sprachgebrauch ist von der mündlichen Tradition ihrer Umgebung geprägt und bedingt durch ihren künstlerischen Anspruch in stilisierter[7] Form erhalten geblieben.
Warum diese verschiedenen Traditionen so hervorgehoben werden müssen? Sie verdeutlichen, dass in der frühen Geschichte der deutschen Sprache keine große Einheit bestand, sondern viele kleine und kleinste Sprachgruppen unmittelbar nebeneinander existiert haben. [8] Erst Martin Luthers Bibelübersetzung, die aufgrund der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg weite Verbreitung erfahren konnte, hat den Weg zu einer einheitlichen deutschen Schriftsprache frei gemacht. Gesprochen wurde und wird allerdings vor allem auf dem Land bis heute in der jeweiligen Mundart.
Interessant ist es auch, die verschiedenen Übersetzungen biblischer Texte innerhalb einer Zeit, aber auch durch die Jahrhunderte hinweg, zu vergleichen.
Ein althochdeutsches „Vater unser“ (St. Gallen):
fater unseer, thu pist in himile, uuihi namun dinan, qhueme rihhi din, uuerde uuillo diin, so in himile sosa in erdu. prooth unseer emezzihic kip uns hiutu, oblaz uns sculdi unseero, so wir oblazem uns sculdikem, enti ni unsih firleiti in khorunka, uzzer losi unsih fona ubile.
Ein mittelhochdeutsches „Vater unser“ (Reinmar von Zweter):
Got vater unser, dâ du bist in dem himelrîche gewaltic alles des dir ist, geheiliget sô werde dîn nam, zuo müeze uns komen das rîche dîn. Dîn wille werde dem gelîch hie ûf der erde als in den himeln, das gewer unsich, nu gip uns unser tegelîch brôt und swes wir dar nâch dürftic sîn. Vergip uns allen sament unser schulde, alsô du wilt, daz wir durch dîne hulde vergeben, der wir ie genâmen dekeinen schaden, swei grôz er sî: vor sünden kor sô mache uns vrî und loese uns ouch von allem übele. âmen
Martin Luther (Katechismus):
Vater Vnnser[9] der du bist im Himel! Geheiligt werde dein Name. Dein reych komme. Dein wil geschehe wie im himel also auch auff erden. Vnnser teglich Brodt gib vns heute. Vnnd verlasse vnns vnnsere Schulde als wir verlassen vnserenn Schüldigern. Vnd füre vns nicht in versuchung. Sondern Erlöse vns von dem vbel.
Ein modernes „Vater unser“ (NGÜ):
Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe auf der Erde, wie er im Himmel geschieht. Gib uns heute unser tägliches Brot. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben haben, die an uns schuldig wurden. Und lass uns nicht in Versuchung geraten, sondern errette uns vor dem Bösen. (Mt 6, 9-13)
Betrachtet man diese Entwicklung, so fällt als erstes auf, dass der Sprung zwischen Martin Luther und der modernen Variante relativ gering ist, vergleicht man sie mit der mittelhochdeutschen oder althochdeutschen Übersetzung. Das Schriftdeutsch ist einheitsstiftend gewesen. Selbst wenn noch ein langer und schwankender Weg vor allem in der Rechtschreibung gegangen werden musste, hatte das Hochdeutsche mit Luthers Bibelübersetzung seinen Rahmen gefunden.
Christina T.
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 2/2004
[1] Es gehört zur Indogermanischen Sprachfamilie (neben: Keltisch, Romanisch, Slawisch, Baltisch, Griechisch, Albanisch, Armenisch, Iranisch und den modernen indischen Sprachen).
[2] Sprachhistoriker haben in jahrelanger, mühsamer Arbeit die Veränderungen, die in der sog. I. Lautverschiebung vom Indogermanischen zum Germanischen abgelaufen sind, herausgearbeitet. Ab Mitte des 8. Jahrhunderts begegnen uns vermehrt Wortformen, die deutliche Spuren einer erneuten, d. h. II. Lautverschiebung aufweisen. Die Zeit des Althochdeutschen bzw. Altsächsischen (Mitte 8.-11. Jh.) beginnt. Weitere sprachliche Veränderungen lassen ab dem ausgehenden 11. bis zum 15. Jahrhundert vom Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschen reden („hoch“ ist hier ein geographischer Begriff im Süden, d. h. im gebirgigeren Teil Deutschlands – und birgt keine Wertung in sich).
[3] vergegenwärtigen: sich einer Sache bewusst werden È sich etwas klarmachen
[4] das Markenzeichen: (hier) etw., was für jmdn. od. eine Sache bezeichnend, typisch ist
[5] der Klerus: alle (katholischen) Geistlichen
[6] Als „Kanzlei“ bezeichnete man im Mittelalter die Schreibstube, in der Urkunden und andere Schriftstücke öffentlicher Natur verfasst wurden. Man trifft sie an Adelshöfen im geistlichen und weltlichen Bereich an. Heute bezeichnet „Kanzlei“ das Büro eines Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Notars.
[7] stilisieren: jemanden / etwas stilisieren jemanden / etwas ohne Details, nur mit seinen wichtigsten Merkmalen darstellen
[8] Zusätzlich ist zu beachten, dass die große, überregionale Sprache der Gebildeten das Latein war und dass bei Hofe in zunehmendem Maße Französisch gesprochen wurde.
[9] „V“ wird hier synonym mit „u“ verwendet.