Es ist ein trüber Adventstag im Dezember. Eine große katholische Pfarrkirche baut sich vor mir auf. Sie wurde im Jahre 990 erbaut und liegt auf der damals höchsten Erhebung von Mainz. Nach etlichen Stadterweiterungen liegt sie nun in der Stadtmitte. Ich komme näher und drücke den Fisch der Pforte nach innen. Freundliche blaue Kirchenfenster begrüßen mich, Gott zum Lobpreis uns zur Besinnung, Freude und Hoffnung. Ich gehe nach links Richtung Altar. Inmitten des Chorraumes befindet sich das erste von Marc Chagall gestaltete Kirchenfenster. Weitere acht folgen.
Im zweiten Weltkrieg wurde die Kirche bei Bombenangriffen völlig zerstört und brannte bis auf die Außenmauern und die Säulen ab. Sie wurde aber wieder aufgebaut.
Im Frühjahr 1973 wandte sich der Pfarrer der St. Stephansgemeinde, Monsignore Mayer, an den jüdischen Künstler Marc Chagall, „den Meister der Farbe und der biblischen Botschaft“ mit der Bitte, im Ostchor ein Kirchenfenster zu gestalten.
Marc Chagall wurde 1887 in der Nähe von Witebsk im heutigen Weißrussland geboren und ist 1922 nach Frankreich ausgewandert. Er hat Glasfenster in New York, Chicago, Metz, Zürich und Jerusalem gestaltet und so der Glasmalerei zu einer neuen Blüte verholfen.
Nach langer Zeit des Wartens und der inzwischen entstandenen Freundschaft zwischen Pfarrer Mayer und dem Ehepaar Chagall begann der Künstler mit den Arbeiten. Marc Chagall hat die Stephanskirche in Mainz selbst nie betreten, er ließ sich von seiner Frau ausführlich die Räumlichkeiten beschreiben. Am 23. September 1978 wurden die Fenster der Öffentlichkeit übergeben. Marc Chagall sah seine Arbeit als Betrag zur jüdisch-deutschen Aussöhnung, Völkerverständigung und dem lebensnotwendigen Frieden. Dazu bediente sich der Künstler der Friedensbotschaft Gottes, der biblischen Botschaft.
Hauptthema des ersten Fensters ist Chagalls Vision vom „Gott der Väter„, dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs„. In ihr soll uns bewusst werden, dass der „Gott unseres Herrn Jesus Christus“ kein anderer ist als der „Gott der Väter„, wie ihn die neutestamentlichen Schriften bezeugen.
Chagall bedient sich dazu etlicher Begebenheiten aus dem alten Testament, wie etwa Abraham und die drei Engel, das Opfer des Isaak, der Traum des Jakob und wie Mose dem Volk das Gesetz bringt. Darüber schwebt der Engel Gottes mit dem siebenarmigen Leuchter in der Kirche: Symbol für Licht, Leben, Frieden, Freude und Heil.
In den flankierenden Fenstern hat Chagall seine Vision um den Aspekt der Heilsgeschichte erweitert. Er stellt unter anderem das Paradies, die Schöpfung, die Brautwerbung für Isaak und den am Kreuz erhöhten Christus dar.
Mir persönlich gefällt das nördliche dreibahnige Chorfenster am besten. Im unteren Teil des Fensters, der Welt, liest König David in den Schriften nach Psalm 119, 105 „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte.“ Der siebenstrahlige goldene Leuchter und ein Engel deuten den Weg zu Gott. Darüber befinden sich das Lob der Schöpfung, Himmel und Erde, Land und Meer, Gestirne, Bäume und Tiere, Menschen und Engel in Form der bildhaften Kunst. In der Maßwerkkrone das himmlische Jerusalem und darüber der vollendete König David mit der Harfe in der Hand, als Sinnbild für die irdische und himmlische Aufgabe, Gott zu loben.
Das letzte Fenster drückt Chagalls Vision der Ewigkeit aus. Es ist ganz abstrakt gestaltet, keine konkreten Gestalten wie zuvor. Kurz nach der Fertigstellung verstarb Marc Chagall 1985 im Alter von 98 Jahren. Die restlichen Fenster der St. Stephanskirche wurden von Charles Marq, einem Freund Chagalls als eigenständiges Werk gestaltet.
Dieter Benkheuser
weiterführende Links:
http://www.art-perfect.de/marc_chagall_fenster.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Marc_Chagall
https://de.wikipedia.org/wiki/St._Stephan_%28Mainz%29
Der Artikel erschien in „Der Weg“ 1/2009
[1] Psalm 85, 9 14
[2] zu beiden Seiten von etw., jmdm. stehen, gehen; [schützend] begleiten