Von Frühaufstehern und frischen Brötchen

Liebe Irina,

herzlichen Dank für deinen lieben Brief! Hier die Antworten auf deine Fragen.

Früh ins Bett und früh wieder raus

Es ist schon ziemlich spät für deutsche Verhältnisse. Ehrlich gesagt, es war für mich in der ersten Zeit eine große Umstellung, um 22.00 – 23.00 Uhr ins Bett zu gehen. Hier gehen die Leute früh ins Bett, dafür stehen sie aber auch früh auf. Wir wohnen an einer Durchgangsstraße mit viel Berufsverkehr, darum merken wir, wie früh die Deutschen schon wach sind. Der Schultag beginnt zwischen 7.30 und 8.00 Uhr, und viele Geschäfte machen schon um 8.00 Uhr auf. Wenn du mal um 22.00 Uhr in einer kleinen Stadt spazieren gehst, siehst du nur noch wenig Licht in den Häusern, und du triffst auch kaum noch Leute draußen. Man hört nur ab und zu Rollläden[1] quietschen[2] und klappern[3], weil die Deutschen nicht einschlafen, wenn sie das Zimmer nicht verdunkeln. In meiner Heimat verdunkeln die Menschen die Fenster öfter mit Gardinen, obwohl es in meiner Familie nicht der Fall war. Ich glaube, in Russland würde ein Spezialgeschäft für Rollläden wahrscheinlich Pleite[4] machen!

Vom Essen und Trinken

Auch beim Essen musste ich mich ziemlich umstellen. Die Menschen essen drei Mal am Tag. Zum Frühstück oft Brot mit Marmelade oder frische Brötchen, die man in der Bäckerei holt. Dazu trinkt man normalerweise Kaffee. Mittags kochen die Deutschen selten eine Suppe; oft essen sie Fleischgerichte mit Salat. Eigentlich ist es die einzige warme Mahlzeit am Tag. Das Abendbrot ist oft „kalt“, und man isst weniger als in Russland, weil die Speisen zu Mittag sehr reichhaltig sind. Gewöhnlich isst man Brot mit Wurst, Käse oder verschiedenen Brotaufstrichen und trinkt Tee oder Milch.

Was mich angeht, vermisse ich die russische Küche sehr. Ich glaube, dass das Essen in Russland mit mehr Liebe zubereitet wird. Hier ist das Leben sehr hektisch. Man verbringt nicht so viel Zeit in der Küche, sondern man kauft oft Fertigprodukte und macht sie in der Mikrowelle warm. Das schmeckt nicht so lecker wie selbst gekocht. Ich vermisse auch Quark[5] und saure Sahne sehr, aus denen man so viele leckere Sachen machen kann. Man kann beides wohl im Geschäft finden, aber es ist nicht das gleiche.

Die Gewohnheit, immer und mehrmals am Tag Tee zu trinken, ist den Deutschen etwas fremd. Lustig fand ich, dass vieles, was in Russland warm gegessen und getrunken wird, in Deutschland kalt angeboten wird, z.B. Eistee.

Mancher Russe würde beleidigt sein, wenn man ihm nur warmen statt heißen Tee einschenkt. Aber wie man an einem schönen, sonnigen Sommertag heißen Tee trinken kann, bleibt für die Deutschen ein Geheimnis.

Als Kind ging ich oft mit meinem Vater in den Wald, um Pilze zu sammeln. Er erklärte mir dann, was man sammeln muss. Wenn ich ihm froh Champignons[6] zeigte, sagte er, sie seien zwar nicht giftig, schmeckten aber nicht so gut wie die meisten Edelpilze. Verzweifelt trat ich ihn mit dem Fuß. Stell dir vor, gerade die Champignons sind die Lieblingspilze der Deutschen! Man isst sie auf der Pizza, in der Suppe, als Soße und so weiter. Andere Pilze sind nicht so bekannt. Meinen Eltern habe ich das bisher noch nicht gesagt, aus Sorge, dass sie uns dann nicht besuchen. Ich hoffe nun, dass mein Geschmack sich bald umstellt und mir die deutsche Küche vertrauter wird!

Oh, Schreck! Jetzt ist es sogar schon für russische Verhältnisse spät geworden. Ich wünsche Dir viel Kraft und Gottes Segen!

Deine Elena


[1]
der Rollladen: eine Vorrichtung aus schmalen, waagrechten Latten (aus Holz oder Plastik), die man außen vor dem Fenster auf- und abrollen kann
[2] quietschen: durch Reibung einen hellen, schrillen Ton von sich geben
[3] klappern: schnell hintereinander Geräusche machen, die hell und hart klingen
[4] pleite: ohne Geld, sodass die Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können – bankrott
[5] der Quark: ein weiches, weißes Nahrungsmittel, das aus saurer Milch gemacht wird
[6] der Champignon: der; -s, -s; ein meist weißer essbarer Pilz, der z.B. auf Wiesen wächst oder gezüchtet wird