Lebensberichte – An der Schwelle des Todes

Corrie ten Boom – eine mutige Frau **

Corrie ten Boom wurde 1892 in Holland geboren. Ihre Familie wohnte in Haarlem, Nordholland. Der Vater war Uhrmacher. Corrie liebte ihn sehr. [1]

Corrie erlernte den Beruf ihres Vaters. Aber sie gab auch noch Religionsunterricht an Schulen und hatte eine besondere Liebe für geistig behinderte Kinder.

1940 überfiel Adolf Hitler Holland. Corrie sah, wie die Juden immer mehr verfolgt wurden. Da sagte sie eines Tages zu Jesus: „Ich biete dir mein Leben an zur Hilfe für die Juden, auch wenn ich dabei umkommen sollte.“ So wurde das Haus ten Boom bald ein Zentrum für verfolgte Juden. Es wohnten von nun an ständig vier Juden und zwei Widerstandskämpfer mit im Haus. Für den Fall einer plötzlichen Razzia hatte man für sie ein geheimes Versteck im Haus hergerichtet.

Verraten

Im Februar 1944 stürmte die Gestapo[2] das Haus. Jemand hatte die Familie ten Boom verraten. Corrie, ihre Schwester und ihr Vater wurden verhaftet. Sechs weitere Bewohner konnten sich noch rechtzeitig verstecken und später über die Dächer entfliehen. [3]

Corrie und ihre Schwester Betsie kamen zunächst in ein Gefängnis. Die Zelle war bitterkalt. Die Decken und Pritschen stanken schrecklich. Dazu kamen die tödliche Langeweile und die Sorge um die Angehörigen.

Aber Corrie ten Boom schöpfte Kraft aus einer kleinen Bibel, die ihr jemand ins Gefängnis geschmuggelt hatte. Sie las, wie Jesus nach seinem Tod am Kreuz Ostern den Tod besiegte. Könnte dann nicht auch aus dieser Katastrophe etwas Gutes werden? Vielleicht auch erst nach dem Tod?

Leben im KZ

Die kämpfenden Armeen der Alliierten kamen näher. Darum wurden Corrie und ihre Schwester zusammen mit vielen Mitgefangenen im September 1944 nach Deutschland in das berüchtigte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück[4] gebracht. Die Fahrt in dem geschlossenen, überfüllten Güterwaggon dauerte drei Tage. Eine qualvolle Zeit, während der sie auch nichts zu trinken bekamen.

Bei der Ankunft in Ravensbrück konnte Corrie trotz mehrmaliger strengster Leibesvisitation[5] ihre Bibel mit ins Lager schmuggeln. Ihr Strohlager war voll von Flöhen. Sie war entsetzt! Aber Betsie sagte: „Wir sollen Gott für alles danken, also auch für diese Flöhe.“

Täglich mussten die Frauen um 3:30 Uhr aufstehen. Um 4.30 Uhr mussten sie sich alle im Hof aufstellen. Bis dahin gingen die Schwestern durch die nachtdunklen Lagerstraßen und sprachen mit Gott. Diese Stunde war für sie ein Stück Himmel in dieser Hölle.

Konzentrationsslager Mauthausen (Bild: Der Weg)
Gemälde von Jan Molga (Bild: Der Weg)

Anschließend mussten die Frauen elf Stunden schwer arbeiten. Dafür bekamen sie nur sehr wenig zu essen. Sie wurden unmenschlich behandelt. Wiederholt wurde vor ihren Augen eine Frau zu Tode geprügelt[6].

Abends las Corrie den Frauen in der Baracke aus der Bibel vor. Darauf stand die Todesstrafe. Aber nie betrat eine Aufseherin zu dieser Stunde ihre Baracke, und überhaupt kamen sie nur sehr selten in die Baracke. Später entdeckten die Frauen warum: wegen der Flöhe! Die Schwestern, sprachen oft über Jesus und seine Liebe. Viele der Frauen starben mit seinem Namen auf ihren Lippen.

Dann kam der kalte Winter. Das stundenlange Stehen auf dem Hof in der dünnen Häftlingskleidung wurde zur Qual. Corries Glaube war manchmal am Zerbrechen. Aber immer wieder fühlte sie, wie Jesus ihr half. Immer wieder erlebten die Schwestern Gottes Hilfe.

Eines Tages im Dezember sagte Betsie: „Gott hat mir heute Nacht ein Haus gezeigt, in dem wir nach dem Krieg KZ-geschädigte Menschen aufnehmen sollen. Wir werden noch vor Jahresende das Lager verlassen. Wir müssen dann allen Menschen erzählen: Kein Abgrund ist so tief, dass Gottes Liebe nicht hineinreicht. Die Menschen werden es uns glauben, weil wir es selbst erfahren haben.“ Zwei Tage später starb Betsie. Sie war zuletzt nur noch Haut und Knochen.

Endlich frei

Vier Tage darauf wurde Corrie plötzlich entlassen. Später stellte sich jedoch heraus, dass dies nur ein Irrtum gewesen war. Eine Woche später wurden alle Frauen ihres Jahrgangs ermordet. Silvester 1944 fuhr sie durch das zerstörte Berlin nach Hause. Betsie hatte recht behalten: noch vor Jahresende war Corrie in ihre irdische und Betsie in ihre himmlische Heimat entlassen worden.

Nach dem Krieg gab Gott Corrie in Holland zwei Häuser, in denen KZ-geschädigte Menschen gepflegt wurden. Das eine sah genau so aus, wie Betsie es im Traum gesehen hatte. Und sie lernte denen zu vergeben, die ihr so viel Leid angetan hatten.

Corrie reiste um die ganze Welt. In vielen Ländern berichtete sie über ihre Leiden im KZ und darüber, wie ihr Glaube ihr geholfen hatte, diese schreckliche Zeit zu überstehen und ihren Peinigern[7] zu verzeihen. Viele Tausende hörten ihre Botschaft. Sie sprach einfach und direkt: „Kennst du Jesus? Bist du ein Kind Gottes? Kein Abgrund ist tiefer als Gottes Liebe“. Corrie ten Boom starb 1983 nach längerer Krankheit.

Hans Misdorf

Der Artikel erschien in „Der Weg“ 1/2006

 

[1] Einmal bat sie ihn: „Du darfst nicht sterben, ich brauche dich“. „Wann gebe ich dir die Fahrkarte, wenn wir zusammen nach Amsterdam fahren?“ „Kurz, bevor wir in den Zug steigen“. „So macht es auch unser himmlischer Vater: nicht vorher, aber immer, wenn wir es nötig haben, gibt er uns, was wir brauchen. Auch Dir“.
[2] die Gestapo: hist; (Abk für Geheime Staatspolizei) die politische Polizei im Nationalsozialismus
[3] Durch diesen Verrat kamen außer Betsie noch der alte Vater, der Bruder und ein Neffe ums Leben.
[4] nördlich von Berlin
[5] die Leibesvisitation: Durchsuchung der auf dem Körper getragenen Kleidung einer Person.
[6] jmdn. prügeln: jmdn. (voller Wut) mehrere Male kräftig schlagen
[7] peinigen: quälen