Bildungswege in Deutschland ***

Der Vielfalt menschlicher Begabungen entspricht eine Vielfalt möglicher Bildungswege. Der mittlere, zentrale Weg führt von der Grundschule über die Hauptschule in die Berufsausbildung. Dieser Weg ist für viele junge Menschen der sicherste. Wer die Dinge lieber praktisch angeht, für den ist die Hauptschule die richtige Schule. Die Hauptschule führt auf dem kürzesten Weg zur Berufsausbildung.

Auf der Grundschule baut neben der Hauptschule auch die Realschule auf. Diese Schule bietet Schülern mit theoretischer und praktischer Begabung eine Alternative zum Weg über die Hauptschule in die Berufsausbildung. Mit dem Abschlusszeugnis einer Realschule können die Schüler eine Berufsausbildung aufnehmen oder in eine Fachoberschule eintreten.

Der Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium (ab 5. Klasse) stellt eine weitere Alternative dar. Begabte Schüler können ab Klasse 5 bis Klasse 12 oder 13[1] das Gymnasium besuchen, das mit dem Abitur abschließt. Das Abitur berechtigt zum Studium an allen Hochschulen und Universitäten. Zu den Eigenschaften eines künftigen Gymnasiasten sollten vor allem die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit theoretischen Problemen gehören. Zwar treten heute nicht wenige junge Menschen nach dem Abitur unmittelbar in das Berufsleben ein, das Hauptziel des Gymnasiums ist aber der Erwerb der allgemeinen Hochschulreife und ein anschließendes Studium.

Ein großes Problem in Deutschland ist die Jugendarbeitslosigkeit. Viele Jugendliche finden nach Abschluss der Hauptschule keine Lehrstelle. Auch für Absolventen der Realschule ist es oft schwer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Abiturienten müssen oft ein paar Jahre auf einen Studienplatz warten. Und für viele bleibt ihr „Traumberuf“ leider ein Traum …

Seit einigen Jahren wird in Deutschland das Thema Gesamtschule heftig diskutiert. Es gibt die Meinung, dass durch die Einführung der Gesamtschule die Erziehung der Kinder durch die Eltern beeinträchtigt, d.h. zurückgedrängt wird. Andere betonen die Vorteile, die diese Schulform besonders für Kinder hat, deren Mütter berufstätig sind.

Was sind Vorteile: Die Kinder bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben und können auch in der Freizeit in der Gemeinschaft ein vielfältiges Angebot nutzen. Vielleicht kann die Gesamtschule auch dazu beitragen, die Kinderkriminalität zu senken.

Aufgabe: Erklären Sie die folgenden Substantivkomposita: der Bildungsweg, das Abschlusszeugnis, der Ausbildungsplatz, die Jugendarbeitslosigkeit, der Traumberuf, die Kinderkriminalität

Sind Sie für oder gegen eine Einführung der Gesamtschule in Ihrem Land? Wenn es sie schon gibt, wie finden Sie das dreigliedrige Schulsystem?

Abschied von den Eltern

Ich kam mit dem Schulzeugnis nach Hause, in dem ein schrecklicher Satz zu lesen war, ein Satz, vor dem mein ganzes Dasein zerbrechen wollte[2]. Ich ging mit diesem Satz große Umwege, wagte mich nicht mit ihm nach Hause, sah immer wieder nach, ob der Satz nicht plötzlich verschwunden war. Doch er stand immer da, klar und deutlich.

Als ich schließlich doch nach Hause kam, saß bei meinen Eltern Fritz W. „Was machst du denn für ein betrübtes[3] Gesicht?“, rief er mir zu. „Ist es ein schlechtes Zeugnis?“ fragte meine Mutter besorgt. Und mein Vater blickte mich an, als sähe er alles Unheil der Welt hinter mir aufgetürmt[4]. Ich reichte das Zeugnis meiner Mutter hin, aber Fritz riss es mir aus der Hand und las es schon und brach in schallendes Gelächter[5] aus.

„Nicht versetzt“,rief er, während meine Eltern abwechselnd ihn und mich verstört anstarrten[6], und zog mich zu sich heran und schlug mir auf die Schultern. „Nicht versetzt, genau wie ich“, rief er, „ich bin vier Mal sitzen geblieben, alle begabten Männer sind in der Schule sitzen geblieben.“ Damit war die Todesangst vorüber, alle Gefahr war vergangen. Auf den verwirrten Gesichtern meiner Eltern konnte sich keine Wut mehr ausbreiten, sie konnten mir nichts mehr vorwerfen, da ja Fritz W., dieser tüchtige und erfolgreiche Mann, alle Schuld von mir genommen hatte und mich noch besonderer Ehrung für würdig hielt[7].

Auszug aus dem Buch von Peter Weiss „Abschied von den Eltern“ (Bibliothek Suhrkamp):

Ingrid Linse

 

In seinem Buch „Erinnerungen und Gedanken“ berichtet Golo Mann über seine Schulzeit auf Schloss Salem, einer privaten Internatsschule in Baden-Württemberg:

Im Dezember 1922 taten Mutter und ich die Reise nach Salem zum ersten Mal. Sie hatte verstanden, und dafür bin ich ihr dankbar, dass ich für eine Zeit aus dem Haus musste, in dem ich mich nicht mehr wohl fühlte. Nach dem Abendessen lud man uns ein, im „Wohnzimmer“ des Internats einer musikalischen Veranstaltung beizuwohnen. Ein stattlicher Raum, elegant möbliert, eine Dame am Klavier. Was sie bot, interessierte mich nicht weiter. Die Schüler interessierten mich, Mädchen und Jungen, von den Letzteren aber bedeutend mehr, im Alter zwischen elf und achtzehn, ihrer Sprache nach aus allen Gegenden Deutschlands. Die Kinder waren von gebildeter Nettigkeit zueinander … Es gab große Zimmer, mit sieben oder acht Schläfern, kleine mit dreien oder vier. Jedes hatte seinen „Zimmerführer“, der verantwortlich war für Ordnung und Sauberkeit. Die „Kleinen“ hatten um halb neun zu Bett zu gehen, die „Mittleren“, zu denen ich gehörte, um neun, die „Großen“ um halb zehn. Um halb sieben wurde geweckt. Die Toilette am Morgen bestand im Waschen des Gesichts und einem Krug kalten Wassers, mit dem man sich „abzugießen“ hatte, bald gab es Duschen dafür. Dann anziehen, das Zimmer ordnen, Frühstück: warmer Haferbrei mit Milch.

Um acht begann der Unterricht und dauerte bis eins, unterbrochen durch eine dreiviertelstündige Trainingspause: Hochsprung, Weitsprung, Hundertmeterlauf.

Um ein Uhr das Mittagessen, dem Essen folgte das Liegen: Man lag flach auf dem Boden eines der Zimmer und hörte, wenn man nicht schlief, einer Lesung zu. Es las einer der Großen. Nachmittags gab es Sport, meist war es Hockey, danach Zeit, um Hausaufgaben zu machen. Vor dem Abendessen hatte man heiß zu duschen, danach Wäsche und Kleidung zu wechseln. Der Schulanzug war ein graues Flanellhemd und ebensolche Shorts. Nach dem Abendessen war man endlich frei, aber die Zeit nicht mehr lang. Ich verbrachte sie mit Lesen oder, ungern zwar, Briefen nach Hause. Die Schulklassen waren klein, etwa zwischen sieben und zehn Teilnehmern, die Lehrer jung … Es herrschte ein netter Ton zwischen uns, nur selten war Streit …

Kurt Hahn, unser Direktor, war 36 Jahre alt, als ich ihn zum ersten Mal sah und reden hörte. Das Wort „faszinierend“, so verbraucht es ist, kann hier nicht vermieden werden. Keineswegs wollte er faszinieren. Er war so, er konnte es nicht hindern. Er besaß hohe Intelligenz, Ideenreichtum, auch Humor, leidenschaftliche Überzeugung, um was immer es ging. Er konnte recht wohl irren, meistens hatte er dennoch Recht – zum Beispiel mir gegenüber. Nach ein paar Wochen kannte er meine Albernheiten und verstand, sie mir auszutreiben. Es war die Zeit, in der ich große Bösewichter bewunderte und selber einer zu werden hoffte, etwas wie Napoleons schlimmer Polizeiminister. Darauf erwiderte Hahn mit verstecktem Spott. Er sah, dass ich reale, gute Erlebnisse brauchte. So ließ er mich eines Tages einen Leiterwagen voller Hühner zu einem Bauern bringen, eine harte Arbeit – einen langen, holprigen Weg bergab und bergauf … Dazu kamen die Praktiken der Selbstkontrolle und Ehrlichkeit.

Nach ein paar Monaten erhielt man das Recht und die Pflicht, einen „“Trainingsplan“ zu führen, für den Tag oder die Woche die Erfüllung verlangter Aufgaben einzutragen …

In Mathematik war ich bis zur drittletzten Klasse miserabel, indem ich behauptete, ich verstünde die vorgetragenen oder an der Tafel gezeigten Rechnungen und Figuren nicht. Unser Mathematiklehrer wandte dagegen ein: Mathematische Gedankengänge seien etwas, was jeder durchschnittlich intelligente Mensch verstehen könne, unter der Bedingung, dass er von Anfang an aufpasse. Natürlich hatte er Recht, ich war faul gewesen, nichts weiter. Nun, angesichts des bedrohlich näherkommenden Abiturs, begann ich, mir ernsthaft Mühe zu geben, und es ging dann auch leidlich. Die liebsten Fächer waren mir Deutsch, Geschichte, dann kam Latein.

Mit dem Griechischen konnte ich nie viel anfangen, brachte es im Abitur mit knapper Not zu einer 3 und vergaß, was ich während fünf Jahren gelernt hatte, in den folgenden fünfzig so völlig, dass ich heute kaum die Schrift noch lesen kann.

Golo Mann (1909 – 94), der zweiälteste Sohn von Thomas Mann, war einer der berühmtesten deutschen Historiker.

Worthilfen: der Bösewicht= ein böser Mensch, die Albernheit= kindisches Benehmen, der Gedankengang = die Art zu denken, holprig= uneben

 

Diskutieren Sie das Thema: staatliche Schulen, Privatschulen, Eliteschulen

PRO und CONTRA

Worthilfen:

PRO: ich bin für … , ich halte es für besser, wenn …, ich unterstütze die Ansicht …, die Meinung …, ich sehe folgende Vorteile …, der Vorteil für die Schüler besteht in …, positiv für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler ist …, Begabungen, Talente fördern …,

CONTRA: ich bin (absolut) nicht der Meinung, dass …, ich möchte widersprechen …, dieses Argument überzeugt mich nicht …, ich stimme nicht überein mit …, ich sehe folgende Nachteile …, negative Auswirkungen sind …

Der Artikel erschien in „Der Weg“ 3/2004

[1] In manchen Bundesländern wird das Abitur erst nach dem 13. Schuljahr abgelegt.
[2] als ob mein ganzes Leben kaputt gehen wollte
[3] ein betrübtes Gesicht machen: traurig sein
[4] als würde mir ein Unglück geschehen
[5] schallendes Gelächter: lautes Lachen
[6] jemand verstört anstarren= jmd. ängstlich anschauen
[7] jemand für würdig halten: jmd. sehr achten